Der Boom der Experimentalökonomie

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Die Schaltzentrale liegt im zweiten Kellergeschoss hinter einer schweren Stahltür. Kein Laut dringt in die drei neonbeleuchteten, fensterlosen Räume. Es herrscht Bunkeratmosphäre, und das ist auch so gewollt, denn jeder Einfluss von außen ist unerwünscht. Gut zwei Dutzend Studenten sind gekommen, um hier unten an einem Experiment teilzunehmen. Es gibt Geld zu verdienen, dafür sitzt man gerne eine Stunde im Keller.

Aniol Llorente-Saguer, spanischer Wissenschaftler am Bonner Max-Planck-Institut, hat ein Experiment organisiert und erklärt es nun den Studenten. Sie werden in Zulieferer und Händler eingeteilt und sollen miteinander um Warenpreise und - mengen verhandeln. Der Computer gibt einige Optionen vor, eine können sie wählen. 50 Runden sind angesetzt. Die Studenten setzen sich in Computerkabinen und ziehen blaue Stoffvorhänge hinter sich zu. Es kann losgehen. Die nächste Dreiviertelstunde ist nur noch ein leises Klicken zu hören. Willkommen im BonnEconLab, dem ältesten Labor für Experimentalökonomie in Europa.

Seit Wirtschaftsnobelpreisträger Reinhard Selten die Einrichtung 1984 gründete, haben hier fast 30.000 Personen an ökonomischen und sozialen Experimenten teilgenommen. 2004 übernahm Armin Falk, einer der Spitzenökonomen der jüngeren Generation, die Leitung. Mittlerweile finden fast täglich Versuche statt - und das EconLab hat zahlreiche Nachahmer gefunden. Die Experimentalökonomie boomt derzeit wie kaum ein anderer Zweig in der Ökonomie. Allein in Deutschland gibt es laut einer einschlägigen Liste der Universität Montpellier mittlerweile 20 Experimentallabors, insgesamt 69 in ganz Kontinentaleuropa und 61 in den USA. Rund ein Fünftel der deutschsprachigen Volkswirte beschäftigt sich mittlerweile lieber mit Versuchen anstatt mit mathematischen Formeln. „In der Experimentalökonomie sind wir ganz vorne mit dabei. Da kann Deutschland ausnahmsweise einmal mit den Amerikanern mithalten“, frohlockt Joachim Weimann, Vorsitzender der Gesellschaft für experimentelle Wirtschaftsforschung (GefW) und Wirtschaftsprofessor in Magdeburg. Wie kam es zu diesem Erfolg - und wie wird er die Volkswirtschaftslehre verändern?

Einen Schub, meinen viele, hätten die experimentellen Ökonomen durch die Finanzkrise erfahren. Diese habe die neoklassische Standardtheorie mit ihrer Rationalitäts- und Marktgläubigkeit diskreditiert und die Aufmerksamkeit auf experimentelle und verhaltensökonomische Forschung gelenkt, die die Psychologie in den Fokus rückt. „Die Finanzkrise ist nicht die eigentliche Ursache, aber sie hat das öffentliche Bewusstsein für unsere Disziplin gestärkt und ihr in der Außendarstellung geholfen“, sagt Weimann.

Fairness und Neid

Tatsächlich hat der Erfolg des Experimentellen ältere Wurzeln. Bereits in den Sechzigerjahren wurden mit dem Aufkommen der Spieltheorie erste ökonomische Experimente gestartet, zunächst vereinzelt von Pionieren wie Heinz Sauermann und Reinhard Selten. In den Achtzigerjahren setzte dann ein breiteres Umdenken ein. „Es herrschte damals eine große Unzufriedenheit über den Stand des ökonomischen Nachdenkens“, erinnert sich Armin Falk. Unbefriedigend waren vor allem manche Annahmen der Mainstream-VWL, die den Menschen als vollkommen rationalen und stets nutzenmaxierenden Homo oeconomicus definierten, aber damit die Realität menschlichen Verhaltens immer weniger erklären konnten. Der Begriff der „Armchair Economics“, einer Ökonomie, die aus dem Wohnzimmersessel heraus Theorien ohne empirische Grundlage generiert, machte die Runde.

Die Experimentalökonomen gingen den umgekehrten Weg: Am Anfang stand die Empirie, und an ihr musste sich die Theorie messen lassen. In Labor- und Feldexperimenten stellten sie die Menschen vor Entscheidungssituationen, um zu testen, ob sie sich tatsächlich rational verhalten oder nicht. Die neue Methode war dabei nicht per se gegen die herrschende Lehre gerichtet. Der spätere US-Wirtschaftsnobelpreisträger Vernon Smith etwa fand in vielen seiner Experimente den Homo oeconomicus bestätigt.

Großes Aufsehen erregte 1982 das Ultimatum-Spiel, einer der Meilensteine des Fachs. Es zeigte, dass Menschen in ihren Entscheidungen stark von Fairnessgedanken beeinflusst sind, anstatt rein rational und gewinnmaximierend zu agieren. Schritt für Schritt gewannen die Experimentalökonomen in der Fachdiskussion an Gewicht, sie stießen auf erstaunliche Verhaltensmuster, die systematisch von den alten Hypothesen abwichen: Menschen, so eine wichtige Erkenntnis, handeln häufig reziprok, das heißt, sie machen ihr eigenes Verhalten und ihren Nutzen vom Nutzen ihres Gegenübers abhängig. Fairness, Altruismus, Statusüberlegungen oder Neid spielen in ihren Entscheidungen eine große Rolle, Dinge, die dem klassischen Homo oeconomicus abgehen. Da Menschen in der Realität keine vollständige Information besitzen, handeln sie auch auf Basis von Erfahrungswerten und Daumenregeln. Und sie haben entgegen der Standardtheorie eine Aversion gegen Verlustrisiken, die sich nach Alter und Geschlecht differenzieren läßt. Viele dieser Erkenntnisse finden im Alltag ihren Niederschlag. So strengen sich Beschäftigte, die vergleichsweise gut entlohnt werden, am Arbeitsplatz in der Regel stärker an, weil sie sich gerechter behandelt fühlen.

Es gibt auch Kritik

Gleichwohl ist die experimentelle Ökonomie in der Fachwelt umstritten, mit der Bedeutung des Fachs wächst auch der Gegenwind. Der Hauptvorwurf: Es fehle ein theoretisches Fundament, und Experimente seien nicht verallgemeinbar. Der Chicagoer Ökonom Steven Levitt etwa kritisiert, dass „Ergebnisse aus dem Labor nicht einfach auf die Welt extrapoliert werden können“. Im wirklichen Leben reagiere der Mensch auf eine Vielzahl von Umständen, Erfahrungen und Normen, die in der künstlichen Laboratmosphäre ausgeblendet würden. Manche Ökonomen halten daher groß angelegte Feldexperimente für die bessere Wahl.

Experimentalökonom Weimann sieht das anders: „Klar gibt es Fallstricke, die Übertragbarkeit der Versuche muss immer überprüft werden. Aber es ist abwegig, anzunehmen, dass Menschen im Labor ihre Persönlichkeit abgeben und sich völlig anders verhalten, als sie es draußen im Leben tun.“ Der US-Ökonom James Heckman, der wie Levitt in Chicago lehrt, glaubt, dass die Kritik auf einem falschen Verständnis der Natur wissenschaftlicher Beweise basiert. „Das Labor erlaubt kontrollierte Veränderung, das ist die Grundlage allen empirischen Wissens.“ Nur über diese Kontrollmöglichkeit ließen sich Kausalzusammenhänge klar erschließen. Im Labor kenne man die Auszahlungen an die Probanden, die Reihenfolge ihrer Handlungen, ihren Informationsstand und könne diese gezielt verändern. Im Feld sei dies kaum machbar.

Eine weiterer fundamentaler Kritikpunkt ist, dass die Experimentalökonomie und ihre Schwesterdisziplin, die Verhaltensökonomie, ständig neue Einzelergebnisse produzierten, die kein Gesamtbild ergäben und sich nur schwer in die ökonomische Theorie integrieren ließen. Experimentalökonomen verweisen indes darauf, dass das „Engineering“, die Kombination von (kleinen) Theorien und Experimenten, das Design und die Funktion vieler Märkte zum Positiven verändert hat. Der aktuelle US-Wirtschaftsnobelpreisträger Alvin Roth etwa versteht sich als ein solcher Marktdesigner. Er baute in den USA einen neuen Tauschmarkt für Spendernieren auf, der so manchem Organspende-Patienten das Leben rettete. In New York schuf Roth einen neuen Mechanismus, der die Schüler reibungsloser auf die Schulen verteilte, indem er ihre Präferenzen besser berücksichtigte.

„Has experimental economics lived up to its promise?“, überschrieb Roth einen 2010 veröffentlichten Aufsatz. Ist das Fach seinem Anspruch gerecht geworden? In vielen Punkten ja, aber in mancher Hinsicht noch lange nicht, sagt Roth. „Die Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten hat immer noch keinen Experimentalökonomen an Bord.“ Und die mikroökonomischen Standardlehrbücher behandeln den Zweig, wenn überhaupt, nach wie vor nur am Rande. An der Mehrheit der VWL-Studenten geht die experimentelle Ökonomie damit auch im Jahre 2013 immer noch vorbei.

Neue Erkenntnisse

Das gilt nicht für die Studenten im Bonner EconLab. Ihr Experiment endet nach einer knappen Stunde. Die Studenten ziehen die Vorhänge ihrer Kabinen auf und warten, dass ihre Kabinennummer aufgerufen wird, dann gehen sie in den Nebenraum, um sich von Wissenschaftler Aniol ihr Geld abzuholen. Die meisten kommen mit einem Zehner und etwas Kleingeld heraus. Warum sie das machen? „Es macht Spaß, und man verdient ein bisschen was“, sagt Jura-Student Alexander, der seit Jahren dabei ist. Seine Strategie bei den Experimenten: „Ich gehe immer gerne auf Risiko, und wenn jemand kooperiert, verzichte ich auch gerne auf ein paar Euro Gewinn.“

Aniol ist mit dem Experiment zufrieden. Er spricht von symmetrischen und passiven Verhandlungsstrategien, die sich insgesamt bestätigt haben. Es lief zwar nicht alles genau wie erwartet, aber auch das habe ihm neue Erkenntnisse gebracht.

Diese neue Flexibilität des Denkens und Forschens, sagen viele, ist das eigentliche große Verdienst der experimentellen Ökonomie. Der Zweig könnte damit der seit der Finanzkrise erschütterten Ökonomenzunft die Richtung weisen: Weg von den großen Theorien hin zu kleinen, aber lebensnahen Erkenntnissen. „Ich sitze auch lieber in einer schicken Lounge als in einem unaufgeräumten Kinderzimmer“, sagt EconLab-Chef Armin Falk, der in 200 Meter Luftlinie zum Labor in einem Büro mit Gartenblick am Computer sitzt. „Aber das Kinderzimmer bringt die besseren Erkenntnisse.“

Im Bonner Fall sind es genauer gesagt drei neonbeleuchtete Räume in einem lautlosen Keller.

Die Krise hat der Experimentalökonomie einen Schub gegeben.

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