Warum der Süden so viele Weltmarktführer hat

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Das Weltzentrum für Medizintechnik liegt auf halber Strecke zwischen Stuttgart und Zürich in Tuttlingen, am Ufer der Donau. Es gibt dort ein Thermalbad, eine moderne Stadthalle und ein Kulturfestival, auf dem schon BAP, Jethro Tull und Art Garfunkel gespielt haben. Hauptattraktion des 34.000-Einwohner-Ortes sind aber die gut 400 Medizintechnikunternehmen, die von Tuttlingen aus ihre globalen Geschäfte steuern.

Die Wurzeln dafür liegen im Jahr 1867, als Gottfried Jetter eine Werkstatt zur Herstellung chirurgischer Instrumente einrichtete. Er legte damit den Grundstein für den heutigen Weltmarktführer Aesculap. Einige von Jetters Leuten machten sich selbstständig und gründeten eigene Unternehmen. So wurde Tuttlingen über die Jahrzehnte zur Medizintechnikhochburg.

Heute arbeiten allein für Aesculap 3000 Mitarbeiter in dem Backsteingebäude gegenüber dem Bahnhof; das Unternehmen produziert unter anderem Pinzetten und Knochenhebel. Einige Straßen weiter leitet Matriarchin Sybill Storz den Endoskopiespezialisten Karl Storz. Der hat es mit Geräten, durch die Operateure ins Körperinnere blicken können, weltweit zur Nummer eins gebracht. Die örtlichen Hersteller Berchtold und KLS Martin haben sich derweil auf OP-Lampen spezialisiert.

Weltmarktführer in der Provinz? Für Baden-Württemberg ist das nichts Ungewöhnliches. Das Land ist die Hochburg der Champions. 26 Prozent der mehr als 1500 Unternehmen, die der Münchner Professor und Berater Bernd Venohr in seiner Datenbank deutscher Weltmarktführer erfasst, haben hier ihren Sitz. Nordrhein-Westfalen beheimatet 24,1 Prozent, Bayern 20,8 Prozent. Noch eindrucksvoller wird der Unterschied in Relation zur Einwohnerzahl: In Baden-Württemberg kommen auf 100.000 Menschen 3,8 weltweite Champions, in Hamburg sind es 2,9, in Bayern 2,6. Schlusslicht ist Brandenburg mit 0,1.

Den Erfolg des Südwestens erklärt Venohr mit der früheren Armut: Die Böden waren nicht sehr fruchtbar, die Höfe wurden unter den Erben aufgeteilt, die Anbauflächen also immer kleiner. „In der Landwirtschaft war nicht viel zu holen, die Leute mussten sich etwas anderes überlegen\", sagt Venohr. „So entstanden viele Handwerksbetriebe, aus denen sich erfolgreiche Unternehmen entwickelt haben.\" Viele führten ihren Hof nebenbei weiter – was Tugenden beförderte wie Fleiß, Sparsamkeit und Bodenständigkeit.

Zugute sei dem Land dabei eine wirtschaftsnahe Politik gekommen. „Der damalige Ministerpräsident Lothar Späth hat früh die duale Ausbildung im Betrieb und an Hochschulen eingeführt, wo Nachwuchskräfte praxisnah ausgebildet werden\", sagt Venohr. Wie aber haben es Unternehmen ganz konkret an die Weltspitze geschafft? Die WirtschaftsWoche stellt drei von ihnen vor.

Karl Storz: Nah am Kunden

Seit 1996, dem Tod ihres Vaters und Firmengründers Karl Storz, führt die heute 76-jährige Sybill Storz den Spezialisten für endoskopische Geräte. Vom Vater lernte die bescheiden auftretende gelernte Fremdsprachenkorrespondentin das Geschäft. Mit Erfolg: Die Ehrendoktorin der Universitäten Tübingen und Dundee forcierte die Internationalisierung des Unternehmens – Storz erwirtschaftet heute drei Viertel seines Umsatzes im Ausland. Von den weltweit rund 5000 Storz-Mitarbeitern arbeiten aber immer noch mehr als 2000 in Tuttlingen.

Der Umsatz des Medizintechnikspezialisten schnellte zwischen 2009 und 2012 um 50 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro hoch. 2013 liege das Wachstum noch immer „im hohen, einstelligen Bereich\", heißt es bei Storz. Seit der Gründung 1945 ist das Unternehmen jedes Jahr gewachsen. Angaben zum Gewinn macht das Familienunternehmen nicht.

8000 Produkte umfasst der Katalog. „Die Systeme von Storz sind ausgereifter als bei Konkurrenten\", sagt Gero Strauß, Gründer der Leipziger Acqua-Klinik und HNO-Facharzt. Dafür seien sie allerdings auch teurer – um etwa 15 Prozent.

Matriarchin Storz führt den Erfolg lieber auf die starke Kundenorientierung zurück: „Wir stehen seit über sechs Jahrzehnten im engen Austausch mit führenden Ärzten. Durch den intensiven Dialog können wir Trends früh erkennen.\" Auch Klinikchef Strauß lobt die Storz-Außendienstler: „Die treten bescheiden auf, machen sehr gute Schulungen und reagieren flexibel auf unsere Wünsche.\"

Wie lange die Grande Dame von Tuttlingen noch das Zepter schwingt, ist offen. Sohn Karl-Christian leitet seit Jahren die Forschung, aber noch mischt die Mutter munter mit. Sorgen bereitet ihr die hohe Zahl der Plagiate – nicht nur aus China, auch aus der Tuttlinger Nachbarschaft. Aus Brüssel droht mit neuen Regulierungen ein höherer Bürokratieaufwand: „Durch die strenge Regulierung werden Patienten somit erst später von medizintechnischen Innovationen profitieren können.\"

Qualität aus dem SüdwestenDie Top 25 bis 50 der größten Weltmarktführer aus Baden-WürttembergRangUnternehmen/OrtUmsatz 2012 (in Mrd. Euro)Mitarbeiter 2012Weltweit führend1 bei:26Trumpf/Ditzingen2,39 900Lasertechnik27Festo/Esslingen2,216 200Automatisierungstechnik 28Cronimet Holding/Karlsruhe2,11 700Handel und Aufarbeitung von Sekundärrohstoffen (Recycling) für die Edelstahlproduktion29Alfred Kärcher/Winnenden1,99 700Reinigungssysteme (Hochdruckreiniger)30Fuchs Petrolub/Mannheim1,83 800Schmierstoffspezialitäten wie Metallbearbeitungsflüssigkeiten, Korrosionsschutzmittel, Fette31Paul Hartmann/Heidenheim1,810 200Elastische Spezialgewebe für die Medizin32Maquet/Rastatt1,56 300Therapien und Serviceleistungen mit Schwerpunkt OP-Säle und Intensivstationen33ebm-papst/Mulfingen1,410 900Motoren/Ventilatoren34Karl Storz/Tuttlingen1,36 400Geräte für minimalinvasive Chirurgie und starre Endoskopie (zur Untersuchung von Körperhöhlen)35Schuler/Göppingen1,25 400Umformtechnologie für die Metallverarbeitung36Gebr. Röchling/Mannheim1,27 200Verarbeitung hochwertiger Kunststoffe zu Halbzeugen, Teilen und Systemen für die Autoindustrie37Herrenknecht/Schwanau1,14 900Tunnelvortriebsmaschinen38Sto/Stühlingen1,14 700Wärmedämmverbundsysteme (Fassadendämmsysteme)39ElringKlinger/Dettingen/Erms1,16 300Zylinderkopfdichtungen40Häfele/Nagold1,06 200Fertigung und Vertrieb von Möbel- und Baubeschlägen sowie von elektronischen Schließsystemen 41WMF/Geislingen/Steige1,06 100Vollautomatische Kaffeemaschinen (Großkundengeschäft)42Sick/Waldkirch1,06 300Sensorsysteme (Lichtschranken, Sensoren und Scanner), Lichtlaufzeitmesstechnik43Lapp Gruppe/Stuttgart0,93 200Kabel und Steuerleitungen44Rudolf Wild/Eppelheim/Heidelberg0,81 400Halbfertigfabrikate für Lebensmittelindustrie, Grundstoffe für Getränke- und Lebensmittelindustrie45Homag Group/Schopfloch0,85 100Maschinen, Anlagen und Dienste für plattenverarbeitende Möbel- und Bauelementehersteller46Papierfabrik August Koehler/Oberkirch0,71 700Thermopapiere47Roto Frank/Leinfelden-Echterdingen0,74 400Beschlagtechnik für Fenster und Türen (u. a. Drehkippbeschläge) 48Fischerwerke/Waldachtal0,63 900Dübeltechnik49Gelita/Eberbach0,62 500Gelatine und Kollagenpeptide z. B. für die Lebensmittelproduktion50Eisenmann/Böblingen0,623 000Anlagen zur Kunststofflackierung und AutomobillackierungZahlen gerundet; 1unter den Top 3, z. T. Auswahl; 2 2011; Quellen: Datenbank deutscher Weltmarktführer/Bernd Venohr + Team, Unternehmen, Hoppenstedt. Ohne Sanierungsfälle

Lange konnte über die wahre Ertrags- und Erlöskraft des weltgrößten Aromen- und Grundstoffherstellers Wild nur spekuliert werden. Das Geheimnis wird nun peu à peu gelüftet, seit sich der 72-jährige Inhaber Hans-Peter Wild, Sohn des Gründers Rudolf Wild, vor drei Jahren mit dem US-Finanzinvestor KKR verbündete und 35 Prozent seiner Anteile abgab.

Wild beliefert Lebensmittelkonzerne mit Aroma- und Zusatzstoffen, die in Getränken, Süßwaren, Eis oder Fertiggerichten verarbeitet werden. Die Kooperation mit KKR hat dem Wachstum offenbar Flügel verliehen: 2011 stiegen die Erlöse um elf Prozent auf 650 Millionen Euro. 2012 legten sie sogar um fast 30 Prozent auf 840 Millionen Euro zu. Und für 2013 rechnet Wild erneut mit einem zweistelligen Umsatzplus auf knapp über eine Milliarde Euro. Ein großer Teil der Zuwächse stammt aus Zukäufen in den USA. Das Eigenkapital liegt bei 868 Millionen Euro und damit bei komfortablen 61 Prozent der Bilanzsumme.

Gründer Wild verfiel 1931 in Heidelberg auf die damals revolutionäre Idee, alkoholfreie Getränke ohne synthetische Zusatzstoffe herzustellen. Doch erst 1951 gelang ihm der Durchbruch mit der Limonade Libella, zu der sich in den Sechzigerjahren die mittlerweile in 100 Ländern verbreitete Capri-Sonne gesellte, bis heute im Privatbesitz von Hans-Peter Wild.

Seit dem Schulterschluss mit KKR hat Wild den Sitz im Schweizer Kanton Zug. Größter Produktionsstandort bleibt jedoch der Stammsitz Eppelheim bei Heidelberg, an dem 880 der weltweit 2400 Mitarbeiter schaffen. „Hier erhielten wir die Möglichkeit zu expandieren. Von Eppelheim aus konnte sich das Unternehmen zum Global Player entwickeln\", sagt Hans-Peter Wild. Dies sei nicht zuletzt auf die qualifizierten Mitarbeiter in dieser Region zurückzuführen. Und auf den Pioniergeist, die Nischenstrategie des Gründers – und den konsequenten Internationalisierungskurs seines Sohnes Hans-Peter.

Getrag: Erfolgreiche Nische

Manche lernen in der Bahn die Liebe ihres Lebens kennen, für andere wird eine Begegnung im Zug zum beruflichen Wendepunkt. Wie für den damals 21 Jahre alten Nürnberger Wirtschaftsprüfer Hermann Hagenmeyer im Frühjahr 1935: Auf der Heimfahrt von einem Termin in Stuttgart lernt er einen Anwalt kennen, der die Firma eines Freundes verkaufen soll, die Pfeiffer-Werke in Ludwigsburg. Am Ende der Fahrt sind die beiden sich einig: Hagenmeyer wird Unternehmer und kauft die kleine Fabrik, die damals mit 80 Mitarbeitern Getriebe für Motorräder produziert. Obwohl Familie und Freunde ihm abraten, geht er das Risiko ein – und hat Erfolg. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hat die Getriebe- und Zahnradfabrik Hermann Hagenmeyer schon 300 Mitarbeiter. 1945 dann der Neuanfang: Produziert wird ein Untersetzungsgetriebe für Fleischwölfe, später einfache Getriebe für Mähdrescher.

Heute gehört die in Untergruppenbach bei Stuttgart ansässige Getrag mit gut drei Milliarden Euro Umsatz, einem Vorsteuergewinn von rund 200 Millionen Euro und knapp 13.000 Mitarbeitern zu den Weltmarktführern im Ländle.

Getrag ist der weltgrößte Hersteller von konventionellen und Doppelkupplungsgetrieben für Pkws und leichte Nutzfahrzeuge. Grund für den Erfolg: Getrag beschränkt sich – anders als Wettbewerber ZF Friedrichshafen – strikt auf dieses eine Geschäftsfeld, in dem es technisch führend ist und alle Segmente abdeckt. Getrag produziert für Fahrzeuge aller Größenklassen: vom Kleinwagen Ford Fiesta über Mittelklasselimousinen der BMW-3er-Serie und den aufgemotzten Daimler-Sportwagen AMG SLS bis hin zu Ferrari.

Eine hohe Risikobereitschaft zeichnet die Gründerfamilie bis in die jüngste Vergangenheit aus und hätte Getrag in der Finanzkrise 2008 und 2009 fast die Existenz gekostet. Nach der Expansion nach China und dem Bau eines neuen Werks in den USA war das Unternehmen hoch verschuldet. Als dann Chrysler einen Großauftrag zurückzog und BMW die Bestellungen drastisch verringerte, musste das Land Baden-Württemberg mit einer Bürgschaft einspringen. Seitdem hält sich die Familie aus dem operativen Geschäft zurück.

Doch die Krise ist überwunden. Produziert wird an weltweit 23 Standorten. Mit Ford und Jiangling aus China gibt es Joint-Ventures, mit der ebenfalls chinesischen Dongfeng Motor wurde Vorstandschef Mihir Kotecha, ein Brite, gerade handelseinig. „Die Expansion in Asien bringt auch für unser europäisches Geschäft Vorteile\", sagt Kotecha. „Durch Synergieeffekte verbessern wir unsere globale Kostensituation.\" Binnen fünf Jahren wollen die Schwaben allein in Asien eine Milliarde Euro umsetzen – und 2015 zum zweitgrößten Getriebelieferanten Chinas aufsteigen.

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