Börse Frankfurt-News: "Der Wirecard-Skandal - acht Lehren für Anleger"
FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Fondsmanager Frank sieht acht plausible wie
praktische Schlüsse für Anleger in
den Geschehnissen um Wirecard.
29. Juni 2020. FRANKFURT (pfp Advisory). Nach über 25 Jahren an der Börse
ertappe ich mich gelegentlich bei der Fehleinschätzung, ich hätte schon alles
erlebt. Der Fall Wirecard belehrt mich wieder einmal eines Besseren: Zwar kommt
mir vieles bekannt vor, aber neben einigen Déjà-vus bringt der Skandal doch
auch gänzlich neue Facetten hervor. Da wir uns bei pfp Advisory nur in
Ausnahmefällen öffentlich zu den Aussichten einzelner Aktien äußern, möchte ich
das auch hier nicht tun. Ich würde aber gerne ein paar Gedanken ausführen,
welche Lehren Investoren aus dem Wirecard-Skandal ziehen können.
Erstens: Ich würde niemand einen Vorwurf machen, Wirecard gekauft zu haben,
sofern er oder sie den Kauf gut begründet hat. Fehleinschätzungen und Verluste
gehören zum Anlegeralltag wie zeitraubende Staus und nervige Parkplatzsuchen
zum Autofahren. Problematisch fände ich es allerdings, wenn Fondsmanager oder
Anleger keine nachvollziehbare Begründung parat haben.
Ich selbst habe in all den Jahren keine vernünftige Rechtfertigung gefunden, in
Wirecard zu investieren. Konsequenterweise war die Aktie denn auch niemals im
Portfolio des von pfp Advisory gesteuerten, 2006 aufgelegten Deutschland-
Aktienfonds enthalten. Ich habe mich auch deswegen ferngehalten, weil ich viele
Details bei Wirecard schlicht nicht verstanden habe. Vielleicht bin ich nicht
intelligent genug, das kann sein. Aber in diesem Fall müsste die Konsequenz für
mich erst recht lauten: Finger weg! Was ich nicht verstehe, kaufe ich nicht.
Basta. Es gibt genügend Alternativen, die ich verstehe und daher erwerben kann.
Fazit 1: Kaufen Sie nur das, was Sie wirklich verstehen! (Und schämen Sie sich
nicht, sich einzugestehen, wenn Sie etwas nicht verstehen. Schließlich ist es
am Ende Ihr Geld oder das Ihrer Anleger, das im Feuer steht.)
Zweitens: Den Standpunkt, der Skandal um Wirecard würde ein schlechtes Licht
auf aktives Fondsmanagement werfen, kann ich nicht nachvollziehen. Warum denn?
Wer wie wir bei pfp Advisory wegen der hohen Risiken bewusst auf ein Investment
in Wirecard verzichtet hat, bewies doch gerade umso mehr den potenziellen Wert
des aktiven Managements, z. B. gegenüber einem ETF oder Indexfonds, der die
Aktie kaufen und halten musste, weil sie eben mit einer bestimmten Gewichtung
im Index enthalten ist. Fazit 2: Aktives Fondsmanagement funktioniert bestens!
Drittens: Spekulieren Sie nur, wenn Sie einen Totalverlust verkraften können.
Wenn Ihre einzige Hoffnung beim Kauf darin besteht, ein Investment später zu
höheren Kursen an jemand anderen weiterreichen zu können, ist das Spekulieren.
Investieren in Aktien dagegen bedeutet, systematisch nach klaren Kriterien
anzulegen, sich als Miteigentümer eines Unternehmens zu betrachten und notfalls
zehn Jahre auf eine Verkaufsmöglichkeit verzichten zu können. Prüfen Sie daher
jedes Investment auf Herz und Nieren, so als ob es ihr einziges Investment für
viele Jahre wäre. Fazit 3: Investieren statt spekulieren!
Viertens: Verlieben Sie sich nie in eine Aktie. Egal, ob Sie das Unternehmen
für "das deutsche Fintech schlechthin" halten, die Aktie jahrelang haussiert,
sie in einen Auswahlindex aufsteigt oder Analysten traumhafte Kursziele
ausgeben. Wenn Sie nur noch die Chancen sehen und in Ihrer Verliebtheit
aufhören, Ihr Investment auch auf mögliche Risiken und Schwachstellen
abzuklopfen, kann Sie das schnurstracks in den finanziellen Ruin treiben. Ein
Teil der Wirecard-Community schien mir zeitweise wie Jünger einer
Religionsgemeinschaft zu agieren, die ihr Unternehmen bedingungslos liebten,
Kritik als Häresie und Kritiker als Dummköpfe betrachteten. Presseberichten
zufolge soll es Aktionäre gegeben haben, die sich ihrer Sache so sicher waren,
dass sie das monatliche Kindergeld komplett in die Aktie investierten oder auf
der Hauptversammlung Ex-Chef Markus Braun dafür priesen, welche "Glücksmomente"
er ihnen beschert habe. Eine gesunde Distanz zu den eigenen Investments sieht
anders aus, eine vernünftige Diversifizierung übrigens auch. Fazit 4:
Hinterfragen Sie Ihre Investments in regelmäßigen Abständen und verlieben Sie
sich nicht!
Fünstens: Sie müssen Shortseller und nörgelnde Journalisten nicht mögen,
sollten aber anerkennen, dass diese im Fall Wirecard eine sehr löbliche Rolle
für die Kapitalmarkthygiene gespielt haben. Es waren nicht Wirtschaftsprüfer,
Analysten, Politiker oder die Finanzaufsicht, die den Skandal um Wirecard
aufgedeckt haben, sondern kritische Journalisten und Shortseller. Ich weiß aus
meinen Investorengesprächen, wie schwierig es war, die eigene Skepsis gegenüber
Wirecard immer wieder zu begründen, als die Aktie haussierte und fast nur Fans
hatte, und kann deshalb vor der Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit der Aufklärer
nur den Hut ziehen. Fazit 5: Ziehen Sie in Erwägung, dass die Vertreter
gegensätzlicher Positionen Recht haben könnten, selbst wenn Sie Ihnen
vielleicht unsympathisch sind oder Sie Ihre Rolle für den Finanzmarkt nicht
anerkennen!
Sechstens: Informieren Sie sich in testierten Berichten über Ihr Unternehmen.
Diese Anregung wird Sie angesichts der unrühmlichen Rolle des Wirecard-
Wirtschaftsprüfers vielleicht überraschen. Ich gebe zu: Das war auch meine
spontane Reaktion, als mich mein Geschäftspartner Roger Peeters auf die Idee
für diesen Punkt brachte (danke dafür). Waren nicht gerade fehlerhafte
Jahresabschlussberichte bei Wirecard ein bedeutendes Problem? Ja und nein.
Sechs a: Ja, weil die Jahresberichte 2016 bis 2018 vermutlich nachträglich
korrigiert werden müssen und sich der zuständige Prüfer EY wahrlich nicht mit
Ruhm bekleckert hat. Trotzdem enthielten die Berichte noch genügend
Ansatzpunkte für "red flags", so dass skeptischere Investoren (wie wir bei pfp
Advisory) der Aktie konsequent fernblieben.
Sechs b: Ja und nein, weil die testierten Berichte immerhin noch die besten
Informationsquellen für Anleger waren, um sich ein zutreffendes Bild zu machen.
Oder vielleicht sollte ich besser schreiben: die am wenigsten schlechten - frei
nach Winston Churchill, der die "Demokratie als die schlechteste aller
Regierungsformen" ansah, "abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu
Zeit ausprobiert worden sind". Im Fall Wirecard waren die testierten Abschlüsse
wahrlich keine Ruhmesblätter, aber eben immer noch das beste
Informationsmaterial, das Anleger bekommen konnten, und wegen der formalen
Anforderungen allemal gehaltvoller als Präsentationen oder Analystenstudien.
Sechs c: Nein, weil der finale Knall durch zwei Prüfungshandlungen ausgelöst
wurde: erstens und vor allem durch den Sonderprüfungsbericht von KPMG im April
und in der Folge auch durch die Weigerung von EY im Rahmen der
Jahresabschlussprüfung 2019, Wirecard ein Testat zu erteilen.
Sechs d. Und abermals nein, weil sich im Fall Wirecard erneut bestätigt hat,
dass die Verschiebung eines Jahresberichts ein Warnsignal allererster Güte sein
kann. Passiert das wie bei Wirecard sogar mehrmals, sollten alle Alarmglocken
schrillen. Fazit 6: Studieren Sie (testierte) Unternehmensberichte als
bestmögliche Informationsquelle besonders sorgfältig und seien Sie bei
Verzögerungen misstrauisch!
Sieben: Ich glaube unbeirrt, dass Skandale wie der um Wirecard
unwahrscheinlicher wären, wenn wir in Deutschland eine reifere Aktienkultur und
eine im Schnitt bessere Finanzbildung hätten. Klar: Fälle wie Comroad, Metabox,
Steinhoff oder Wirecard wird es immer geben und vergleichbare Skandale kamen
auch schon außerhalb Deutschlands vor. Aber die "Schwarmintelligenz" könnte
hier wirklich wertvolle Dienste leisten. Wenn viele Leute kompetent genug sind,
um sich auf ausreichendem Niveau mit einem Sachverhalt beschäftigen zu können,
erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens einer bemerkt, wenn etwas
faul ist, dieser rechtzeitig Alarm schlägt und eine sachliche Diskussion unter
kompetenten Menschen auslöst.
Und zweitens: Wenn die Aktienkultur entwickelter ist, trauen sich Betrüger
nicht so viel und weichen lieber auf weniger entwickelte Kapitalmärkte aus.
Leider kommt es nicht von ungefähr, dass im angelsächsischen Raum gerne über
das "stupid German money" gelästert wird. Da der deutsche Staat offensichtlich
keine finanziell gebildeten Bürger haben will, stattdessen nach jedem Skandal
lediglich reflexartig nach schärferer Regulierung ruft, die, wie der Fall
Wirecard zeigt, mitnichten ein Allheilmittel ist, müssen Sie Ihr Schicksal
wieder einmal selbst in die Hand nehmen. Fazit 7: Investieren Sie in Ihre
finanzielle Bildung (und die Ihrer Kinder), und das lebenslang!
Achtens: Ich weiß aus eigenen Investorengesprächen, dass selbst viele erfahrene
Aktionäre die Pleite eines DAX-Konzerns nicht für möglich hielten. Und doch kam
es so. Jetzt hoffen alle, dass es ein unschöner Einzelfall bleiben wird, aber
sicher wissen kann das niemand. Auch wenn ein Ereignis unwahrscheinlich
anmutet: Wenn ein Quasi-Totalverlust des Kapitals möglich ist, kann Sie auch
eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit hart treffen. Wer im Vorfeld auch
unwahrscheinliche Szenarien wie eine Wirecard-Pleite in Betracht gezogen hat,
hat zumindest ausreichend diversifiziert und nicht alles auf eine Karte
gesetzt. Und wer ohne Scheuklappen die möglichen Ergebnisse des KPMG-
Sonderprüfungsberichts vorher gedanklich durchgespielt hat, wusste er noch am
Tag von dessen Veröffentlichung Ende April, was zu tun sein würde, statt wie
das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen und handlungsunfähig zu sein. So
konnten Anleger durchaus noch einen Großteil ihres Kapitals retten. Fazit 8:
Spielen Sie gedanklich auch unwahrscheinlich anmutende Ereignisse durch und
bereiten Sie sich konkret auf diese vor!
29. Juni 2020, © pfp Advisory
Christoph Frank ist geschäftsführender Gesellschafter der pfp Advisory GmbH.
Gemeinsam mit seinem Partner Roger Peeters steuert der seit über 20 Jahren am
deutschen Aktienmarkt aktive Experte den DWS Concept Platow ( WKN DWSK62 ),
einen
2006 aufgelegten und mehrfach ausgezeichneten Stock-Picking-Fonds. Weitere
Infos unter www.pfp-advisory.de. Frank schreibt regelmäßig für die Börse
Frankfurt.
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die
Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder
anderen Vermögenswerten.)