Die Crux mit der Börsentendenz

Jessica Schwarzer · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Investoren neigen bekanntlich zum Herdentrieb. Sie kaufen, wenn die Börsenkurse steigen – und das tun sie derzeit. Dabei mahnt eine alte Weisheit, der Börsentendenz entgegenzugehen, nicht nachzulaufen.

Was für ein Börsenjahr! Auf einen fulminanten Jahresauftakt folgte ein ziemlich Nerven aufreibender Sommer. Der Handelsstreit zwischen den USA und China, Konjunktursorgen, Brexit – die Liste der Probleme, die Anlegern die Laune verdorben haben, ist lang. Doch es scheint fast so, als ob die meisten Marktteilnehmer diese Themen abgehakt hätten. Die Kurse diesseits und jenseits des Atlantiks steigen wieder, und zwar kräftig – neue Höchststände inklusive. Natürlich gibt es dafür Gründe: Die US-Notenbank hat die nächste Zinswende eingeleitet und stützt die Konjunktur, die sich auch bereits wieder etwas aufhellt. Auch die EZB bleibt der Politik des billigen Geldes treu. Der Brexit ist mal wieder verschoben und Investoren hoffen auf klare Machtverhältnisse nach den Neuwahlen.

Also Feuer frei für die Jahresendrally? Nichts wie rein in den Markt? Glaubt man einer alten Börsenweisheit, müssten Anleger vorsichtig werden. „Man muss der Börsentendenz entgegen gehen, nicht nachlaufen“, lautet diese. Aber stimmt sie überhaupt noch? Hat sie es je getan? „Diese Börsenweisheit stimmt - und zwar in der Vergangenheit und auch aktuell“, ist Karsten Stroh, Investment Specialist für internationale Aktien bei J.P. Morgan Asset Management, überzeugt.  Man könne diese Antizyklik von zwei Seiten betrachten: „Die eine Seite ist, seine Aktien entgegen des Trends zu verkaufen, wenn der Markt gestiegen ist“, so Stroh. „Die andere, vielleicht emotional noch schwierigere Seite ist, zu kaufen, wenn der Markt gefallen ist - denn natürlich gibt es viele Argumente für die Marktbewegung.“ Anleger seien  geneigt, diesen Fakten zu folgen. Aber irgendwann ändert sich die Nachrichtenlage wieder und dann auch die Richtung der Börsenkurse. So ist das mit der Tendenz eben.

Sven Lehmann gibt allerdings zu bedenken, dass diese Weisheit wie so viele eben nicht immer stimme. „Doch es gab immer wieder Phasen, in denen sie funktioniert hat, und es wird solche Phasen auch immer wieder geben“, sagt der Fondsmanager bei HQ Trust. „Grundsätzlich steht diese Börsenweisheit in Konkurrenz zum Momentum.“ Doch auch das funktioniere nicht, wenn es am Markt Wendepunkte gebe. „Dann sind die die Gewinner, die sich dieser Tendenz entgegengestellt haben.“ Im Grunde ist die alte Börsenweisheit die Anleitung zum Value-Investing. Denn Investoren à la Warren Buffett investieren antizyklisch. Und das ist emotional gar nicht so einfach. Schließlich stellen sie oft gegen den Markt, verkaufen, wenn andere kaufen, und anders herum.

Ein gutes Beispiel ist die Rally um die Jahrtausendwende. Wurden sie während der Börsenparty noch belächelt, waren die Value-Investoren die Gewinner, als die Dotcom-Blase platzte. „Aber sie mussten bis dahin erstmal durchhalten, denn der relative Minderertrag war sehr hoch, wie man am Beispiel von Warren Buffett sieht“, erinnert sich Lehman. Doch in der Zeit nach der Tech-Blase bis zur Finanzkrise funktionierte Value extrem gut. Diese Zeiten sind allerdings vorbei.  „Value steht seit einigen Jahren nicht in der Anlegergunst, da seit der Finanzkrise Growth outperformt“, sagt Stroh. Wachstum statt Substanz ist die Devise vieler Anleger. Zwischendurch gab es aber auch immer kürzere Phasen, in denen Value gut lief, beispielsweise im zweiten Halbjahr 2016. „Aber auch über eine längerfristige Zeitperiode gibt es immer wieder starke Value-Phasen“, so Stroh. Deshalb sei es wichtig zu überlegen, mit welchem Zeithorizont man an diese Betrachtungen herangehe. „Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Liquidität der Notenbanken, die ja seit der Finanzkrise mit unkonventionellen Maßnahmen arbeitet, den Growth-Zyklus durchaus getrieben hat und  ihn weiter antreibt“, so der JP-Morgan-Experte. Irgendwann werde der Zyklus aber enden, und dafür gelte es, gerüstet zu sein. Fondsmanager Lehmann fühlt mit den Value-Fans. „Ohne jede Frage erleben Value-Investoren gerade eine Phase großen Leidens, besonders in Europa“, sagt er.

Market Timing ist und bleibt schwierig

Nur wann endet diese Leidensphase? Und wann endet die Hausse an den Märkten? Market Timing ist und bleibt schwierig. Eine wichtige Erkenntnis ist es laut Stroh deshalb, zumindest in Teilen investiert zu bleiben beziehungsweise jeweils Nuancen anzupassen. Seit Jahresanfang sind die europäischen Indizes etwa 20 Prozent gestiegen, US-Aktien haben gerade Höchststände erreicht und auch Deutschland ist nicht so weit davon entfernt. Damit haben Ende vergangenen Jahres, als ihnen die schmerzhafte Korrektur in den Knochen steckte, wohl die wenigsten Anleger gerechnet. Investoren aber, die damals beherzt zugriffen und sich der Börsentendenz entgegenstellten, konnten sich schon nach wenigen Wochen über kräftige Gewinne freuen.

Sollten Anleger die alte Börsenweisheit also unbedingt beherzigen? „Wie so oft im Leben gibt es mehr als Schwarz und Weiß“, sagt Lehmann. Die einfachste Möglichkeit, diese Börsenweisheit umzusetzen, sei das Prinzip des Rebalancing: Anleger finanzieren mit den Gewinnen, die sie mit einer Strategie vereinnahmt haben, Zukäufe in Strategien, die nicht so gut gelaufen sind. „Schließlich funktionieren die meisten Börsenweisheiten langfristig“, so Lehmann. Oder um es mit Aristoteles Onassis zu sagen: „Dem Geld darf man nicht nachlaufen. Man muss ihm entgegen gehen.“ Das gilt nicht nur auf dem Börsenparkett.

Autorin: Jessica Schwarzer

Foto: WA van den Noort / Shutterstock.com

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