Exponentielles Denken und Unternehmensbewertung

Bernd Schmid · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Letzte Woche ging mal wieder ein Argument durch die Medien, weshalb Elektrofahrzeuge umweltbelastender sind als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Dieses Mal waren es ein Physikprofessor und einer der (auch von mir) angesehensten Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands, Hans-Werner Sinn.

Abgesehen von den aus meiner Sicht verzerrenden Annahmen in der Studie sind solche Diskussionen für politische Debatten durchaus angebracht. Für uns Anleger sind solche Denkweisen jedoch hinderlich. Sie fokussieren sich auf die Gegenwart, während es für uns Anleger auf die Zukunft ankommt. Nur ein Beispiel: man rechnet mit dem Strommix, der heute vorherrscht. Nicht mit dem Strommix, der in fünf Jahren vorherrschen könnte.

Natürlich weiß man heute nicht, wie der Strommix in ein paar Jahren aussehen wird. Wir Menschen unterschätzen technologische Entwicklungen jedoch oft und ziehen daher falsche Schlüsse. Der Grund ist die uns angeborene lineare Denkweise. Diese hindert uns an der richtigen Einschätzung der Auswirkungen von sich noch im Anfangsstadium befindlichen aber sich exponentiell entwickelnden Technologien.

Aber ist das wirklich so, und wie kann man eine exponentielle Denkweise verinnerlichen?

Einige Beispiele zeigen es.

Wie Kodak durch seine eigene Erfindung zerstört wurde

Die erste Digitalkamera wurde im Jahre 1975 von Kodak entwickelt. Sie war vier Kilogramm schwer und benötigte 23 Sekunden für die Aufnahme eines Bildes. Und sie hatte eine Auflösung von 0,01 Megapixel. Das war auch damals schon grottenschlecht - eine durchschnittlich gute 35mm Filmkamera von damals dürfte ungefähr vergleichbar gewesen sein mit einer Auflösung einer digitalen Kamera mit 4 Megapixeln. Das ist das 400-Fache.

Die Leute sahen diese „bahnbrechende“ Technologie und können nur gedacht haben: „Mein Gott, ist das schlecht, Filmtechnologie wird immer besser sein.“ Auch die Geschäftsführung konnte der Kodak- Entwickler nicht von seiner Erfindung überzeugen.

Nichtsdestotrotz wurde die Technologie weiterentwickelt. Im nächsten Jahr war die Auflösung mit 0,02 Megapixeln schon doppelt so hoch. Danach gab es die 0,04 Megapixel Kamera und dann 0,08 Megapixel. Zu diesem Zeitpunkt fand Kodak noch immer, dass diese Technologie einfach extrem schlecht ist - und man beendete das Projekt.

Wir alle wissen, wie die Geschichte ausging. Die Verdopplung der Auflösung setzte sich fort. Mitte der 2000er waren die ersten digitalen Kameras mit 2 Megapixeln auf dem Markt - der Durchbruch der Technologie gelang. Kodak schaffte es nicht mehr, seinen technologischen Rückstand einzuholen und ging bankrott.

Erst die Irreführung, dann der Durchbruch

Man kann Kodak schon auch verstehen. Selbst nach jahrelanger Entwicklung war die Digitalkamera-Technologie noch immer 100-fach schlechter als die Filmtechnologie. Der Durchbruch war nicht absehbar - nicht mit der linearen Denkweise, die wir Menschen gewohnt sind.

Ein Beispiel: Man stelle sich ein Din-A4 Blatt vor. Das hat eine Dicke von ca. 0,05 mm. Mal abgesehen von der physikalischen Herausforderung: wie oft müsste man es hypothetisch falten, bis es so hoch wäre wie ein Mensch?

Fünfmal?

Das reicht nicht, dann ist man erst bei 1,6 mm Dicke angelangt.

50 Mal?

Wahrscheinlich auch nicht, oder vielleicht doch?

Ungefähr 15 Mal!

Das ist die Antwort. Dann wäre das Blatt 1,64 Meter hoch.

Faltet man das Blatt 50 Mal, dann … kommt man damit 28 Mal bis zum Mond und zurück … oder hat ein Drittel auf dem Weg zur Sonne zurückgelegt.

Das ist exponentielles Wachstum.

Der Anfang erscheint oft trügerisch langweilig. Wie die 0,08 Megapixel Digitalkamera, obwohl die Technologie schon jahrelang entwickelt wurde. Oder wie das Blatt, das nach fünfmaligem Falten noch immer nur anderthalb Millimeter dick ist.

Dieser scheinbar lahme Fortschritt täuscht jedoch sehr, so dass der Zeitraum bis zum eigentlichen Durchbruch viel weiter weg erscheint, als er in Wirklichkeit ist. Unser Gehirn will einfach in geraden Linien denken; das ist eine Tatsache, die durch jahrzehntelange Forschung gestützt wird und sicherlich manchmal nützlich ist.

Zum Beispiel kostet eine Eintrittskarte zu einem Fußballspiel 50 Euro. Möchte man Karten für sich und drei Freunde kaufen, dann sind das vier Mal 50 Euro, also 200 Euro. Das ist lineares Denken, und hier dient es uns gut.

Aber es gibt Situationen, in denen lineares Denken uns in die Irre führt. Die Faltübung mit dem Papier und das Beispiel mit Kodaks Digitalkamera sind zwei dieser Situationen.

Warum diese Denkweise beim Investieren hinderlich ist

Ein einfaches Beispiel aus dem Bereich der Unternehmensbewertung zeigt, warum diese Denkweise beim Investieren nicht hilfreich ist.

Ein Nachteil von Bewertungskennzahlen wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) ist, dass es komplett das Wachstum eines Unternehmens vernachlässigt. Ist eine Aktie A mit einem KGV von 10 eine bessere Investition als eine Aktie B mit einem KGV von 30?

Das hängt vom Gewinnwachstum der beiden Unternehmen in den kommenden Jahren ab. Wie ist es, wenn der erwartete Gewinn von A um 12 % pro Jahr wachsen soll und der erwartete Gewinn von B mit 25 %?

Um Abhilfe zu schaffen wird oft das sogenannte Price-Earnings-Growth-Verhältnis (PEG) herangezogen. Das wird berechnet, indem man das KGV der Aktie durch das Gewinnwachstum (in Prozent) des Unternehmens teilt. In unserem Beispiel von oben:

Unternehmen AUnternehmen B
KGV1030
Gewinnwachstum12 %25 %
PEG0,831,2

Es war der legendäre Investor Peter Lynch, der zuerst mit dieser Kennzahl arbeitete. Er hat es so erklärt:

Das KGV eines jeden Unternehmens, das einen fairen Preis hat, entspricht seiner Wachstumsrate … Wenn das KGV von Coca-Cola 15 beträgt, würde man erwarten, dass das Unternehmen mit etwa 15 Prozent pro Jahr wächst, etc. Aber wenn das Kurs-Gewinn-Verhältnis unter der Wachstumsrate liegt, haben Sie vielleicht ein Schnäppchen gemacht. Ein Unternehmen beispielsweise mit einer Wachstumsrate von 12 Prozent pro Jahr … und einem KGV von 6 ist eine sehr attraktive Perspektive. Auf der anderen Seite ist ein Unternehmen mit einer Wachstumsrate von 6 Prozent pro Jahr und einem KGV von 12 eine unattraktive Perspektive und steuert auf einen Comedown zu.

Er sagte also nichts anderes, als dass eine Aktie mit einem PEG von kleiner als 1 günstig ist und eine Aktie mit einem PEG von größer 1 teuer.

Diese Denkweise unterliegt jedoch auch demselben Fehler wie oben besprochen. Sie entspricht einer linearen und nicht einer exponentiellen Denkweise. Das funktioniert, wenn das Wachstum in naher Zukunft (nach wenigen Jahren) schon stark nachlässt. Wenn das Wachstum jedoch länger anhält, solche Fälle gibt es einige an der Börse, dann unterschätzt man den Wert des schnell wachsenden Unternehmens.

Wenn zum Beispiel sowohl das Wachstum (12 %) als auch die Bewertung (KGV von 10) der Aktie von Unternehmen A konstant bleiben, dann erzielt man eine jährliche Rendite mit der Investition von 12 %.

Nimmt man hingegen an, dass das Wachstum von Unternehmen B nur 10 Jahre anhält, dann auf 15 % sinkt - und sich die Bewertung halbiert von einem 30er KGV auf ein 15er (bzw. von einem 1,2er PEG auf 1), dann hat man mit seiner Investition eine Rendite von 17 % pro Jahr erzielt.

Eine Überrendite von 5 %, trotz dessen, dass man die vermeintlich teurere Aktie gekauft hat. Schuld daran ist das exponentielle Wachstum über einen gewissen Zeitraum hinweg.

Und ich habe noch nicht einmal ein extremes Beispiel verwendet - es gibt Unternehmen mit einem Gewinnwachstum von 40 % und mehr über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Dort wäre der Unterschied noch viel extremer.

Man müsste ein KGV von 140 (!) bezahlen, wenn man unter den obigen Annahmen (Wachstumsverlangsamung auf 15 % und ein KGV von 15 nach 10 Jahren) „nur“ eine Rendite von 12 % erzielen wollte!

Fazit

Die Tendenz des Menschen, linear zu denken, kann in der Tat unsere Entscheidungsfindung beeinflussen. Aber die Fähigkeit, bei Bedarf exponentiell zu denken, kann für uns als Investoren einen großen Unterschied bedeuten.

Ein KGV von 80 muss nicht teuer sein. Man muss nur eben genau diese Fähigkeit des exponentiellen Denkens mitbringen und einen Zeithorizont von mehr als nur drei Jahren haben.

Titelfoto: Pressmaster / Shutterstock.com

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