Impfstoff als trügerische Hoffnung? - "Durchimpfen" wird bis Herbst 2021 dauern

Reuters · Uhr (aktualisiert: Uhr)

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Seit Tagen häufen sich die Warnungen von Kanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidenten, dass die Corona-Krise auch 2021 andauern wird.

Ein Grund dafür ist nach Informationen aus Regierungskreisen, dass man sich Sorge vor zu großen Hoffnungen über die Auswirkungen eines Corona-Impfstoffs macht. "Die Disziplin der Bevölkerung könnte sinken, sich an Corona-Auflagen zu halten, wenn der Eindruck einer schnellen Entspannung entsteht", sagte ein Regierungsvertreter zu Reuters. So wichtig die Impfstoffe seien: Die begeisterten Berichte über Fortschritte bei der Entwicklung suggerierten eine trügerische Hoffnung. Bis zum Frühling, wenn wärmere Temperaturen die Ausbreitung des Virus verlangsamen könnten, müsse man durchhalten.

Denn nach den ersten Planungen und Berechnungen von Bundesländern und Regierung wird es selbst bei der Zulassung von Impfstoffen noch im Dezember 2020 bis mindestens in den Herbst 2021 hinein dauern, bis eine sogenannte Herdenimmunität der Bevölkerung erreicht wäre. Für den dann eintretenden Schutz müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung gegen das Virus immun sein, hatte Merkel gesagt - entweder durch Impfungen oder weil sie sich bereits einmal infiziert haben. Doch es gibt etliche Hürden auf dem Weg dorthin.

GIBT ES ÜBERHAUPT GENÜGEND IMPFSTOFF?

Die Meldungen der Länder über den Aufbau ihrer Impfzentren und die Erfolgsmeldungen der Pharmafirmen verdecken die entscheidende Frage: Wie viel Impfstoff wird überhaupt wann zur Verfügung stehen? Wenn EU und auch das Gesundheitsministerium stolz vermelden, wie viele Impfdosen sie für die Bevölkerung gesichert haben, heißt das noch nicht, dass die Präparate auch sofort zur Verfügung stehen. Dazu kommt: Es müssen von den meisten in der Entwicklung befindlichen Präparaten zwei Impfdosen verabreicht werden. Und wirklich gesicherte Daten, wie lange die Impfwirkung anhalten wird, gibt es noch nicht. Wie bei allen Krankheiten muss man mit Rückschlägen bei der Entwicklung von Medikamenten rechnen.

AUFBAU DER IMPFZENTREN - ABER TROTZDEM LANGE IMPFZEITEN

Generalstabsmäßig läuft derzeit in Deutschland der Aufbau von hunderten von Impfzentren: Allein Niedersachsen plant 60 solcher Zentren. Dafür braucht es aber auch medizinisches Personal. Angesichts des absehbar monatelangen Einsatzes ist klar, dass Deutschland nicht mit einem Freiwilligeneinsatz an einem Wochenende die Corona-Immunität erreichen wird. Dafür hilft ein Blick auf Zahlen: Diese klingen auf den ersten Blick imposant, wenn etwa in Berlin in einzelnen Impfzentren 5000 Personen pro Tag geimpft werden sollen. Insgesamt will man in der Hauptstadt pro Tag 20.000 Menschen impfen. Aber angesichts einer Einwohnerzahl von gut 3,8 Millionen dauert es dennoch Monate, bis alle geimpft werden können.

Und die Vorbereitungen variieren zwischen den Bundesländern. In Baden-Württemberg soll es beispielsweise bis Mitte Dezember acht bis zwölf große Impfzentren geben. Ab Mitte Januar soll in jedem der 44 Kreise ein Zentrum mit einer täglichen Kapazität von 750 Impfungen dazukommen. Insgesamt könnten dann pro Monat 1,3 Millionen Menschen geimpft werden. Aber bei rund elf Millionen Einwohnern würde es - bei der nötigen doppelten Impfung - dennoch bis Ende 2021 dauern, bis in Baden-Württemberg die Herdenimmunität erreicht wäre.

WER LÄSST SICH ÜBERHAUPT IMPFEN?

Der ganze Erfolg der Impfung basiert zuletzt auch darauf, dass sich Menschen auch impfen lassen. Und hier liefern Meinungsumfragen bisher sehr unterschiedliche Ergebnisse über die Bereitschaft in der Bevölkerung. Selbst in Medizinerkreisen berichten Ärzte über eine gewisse Zurückhaltung. Denn die mRNA-Technologie, die die Partner BioNTech und Pfizer sowie die US-Firma Moderna für ihre Vakzine einsetzen, ist so neu, dass es noch keine Langzeiterfahrungen gibt.

Die Antwort von Kanzlerin und Ministerpräsidenten auf Kritik und Skepsis ist derzeit eine doppelte. Zum einen betonen sie immer wieder, dass die Impfung freiwillig sein werde. Zum anderen verweist auch Forschungsministerin Anja Karliczek darauf, dass es keine Abstriche der Prüfer bei der Zulassung von Impfstoffen geben solle - Sicherheit gehe vor. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wies darauf hin, dass Politik einen erheblichen Werbeaufwand betreiben müsse, um die Impfbereitschaft zu erhöhen.

Dabei geht es auch um Vorbildfunktionen: Er selbst werde sich natürlich impfen lassen, betonte der CSU-Chef. Gesundheitsminister Jens Spahn zog am Montag nach.

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