Kutzers Zwischenruf: „TINA“ wird eine nachhaltige Baisse verhindern

Hermann Kutzer · Uhr

Wirtschaft und Börse fahren nicht mehr parallel. Daran dürfte sich in den kommenden Wochen und Monaten kaum etwas ändern - wenn Überraschungen ausbleiben. Aktuell sehe ich meine Beobachtungen bestätigt, dass die führenden Anlagestrategen mehrheitlich an ihrem grundsätzlichen Optimismus für die Aktienmärkte festhalten, dabei jedoch die gewachsenen Risiken würdigen und sich deshalb mit konkreten Empfehlungen zurückhalten. Daraus lässt sich zumindest ein Trost für verunsicherte Aktienfans ableiten.

Die von mir besonders geschätzten Vordenker von Allianz Global Investors beschreiben plausibel die diffuse Lage, von der sich die Märkte bislang kaum beeindrucken ließen. Der globale Konjunkturaufschwung bleibt intakt, allerdings hat die Wachstumsdynamik ihren Gipfel bereits überschritten. Auf regionaler Ebene haben sich die Abkühlungstendenzen zuletzt verbreitert. Insgesamt sehen sich die Kapitalmärkte einer „unbehaglicheren Mischung“ aus nachlassender Wachstumsdynamik bei anhaltendem Inflationsdruck ausgesetzt. Eine Mischung, die den Zentralbanken ihre geldpolitische Ausrichtung und Kommunikation erschwert.

Positiv zu vermerken ist, dass die globalen Früh- und Stimmungsindikatoren in letzter Zeit Anzeichen einer Stabilisierung zeigten und die Erwartungen eines langsameren, aber immer noch über dem Potenzial liegenden Wachstums der Weltwirtschaft in den kommenden Quartalen bestärkten. Bei den Konsensschätzungen weicht das bisherige allzu optimistische Wachstumsbild einem neuen Realismus. Die befragten Ökonomen nehmen für eine ganze Reihe an Ländern ihre Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt zurück.

Die Datenflut in der neuen Woche ist wieder beachtlich. Eine nachlassende gesamtwirtschaftliche Dynamik, die sich auch in den kommenden Daten widerspiegeln dürfte, bietet bei einem anhaltenden Inflationsdruck normalerweise ein weniger günstiges wirtschaftliches Umfeld für riskantere Anlageformen (insbesondere für Aktien). Das erhöht die Wahrscheinlichkeit vorübergehender Korrekturen in der Mitte des Zyklus. Dabei dürfte allerdings das Abwärtspotenzial durch die vorherrschende „TINA“-Mentalität („There is no alternative“) begrenzt bleiben, die auch von der unverändert üppigen Zentralbankliquidität weiter begünstigt erscheint.

Auch die Technik passt ins Bild. Die neuen Allzeithochs an einigen Aktienmärkten haben Stimmung wie Positionierung der Anleger in ein optimistisches Terrain gedrückt, was latenten Gegenwind für weitere Kursgewinne bedeutet.

Gewiss kein leichtes Umfeld für Sie, geschätzte Anleger. Ich glaube nämlich zu erkennen, dass die vierte Corona-Welle von den Analysten bisher noch nicht ausreichend gewürdigt worden ist. Kein Wunder, denn die Pandemie hat sich wieder zu einem völlig unberechenbaren Faktor für alle Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft entwickelt. Ihre potenziellen Folgen lassen sich nicht in Zahlen ausrücken - und deshalb auch nicht in eindeutigen Kauf- oder Verkaufsempfehlungen. Achten Sie für Ihre Anlagetaktik also selbst darauf, liebe Leser, in welchem Maß Corona die Börsenstimmung in den nächsten Tagen beeinflussen wird.

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