Lagarde: Bundesbank muss sich weiter an Anleihekäufen beteiligen – Wie viel Chaos-Potenzial birgt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

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Die Bundesbank muss sich nach Überzeugung von EZB-Präsidentin Christine Lagarde trotz des einschränkenden Karlsruher Urteils weiterhin an Anleihenkäufen beteiligen. „Nach dem Vertrag müssen alle nationalen Zentralbanken in vollem Umfang an den Entscheidungen und der Durchführung der Geldpolitik des Euro-Währungsgebiets teilnehmen“, sagte Lagarde in einem am Montagabend online veröffentlichten Interview mit vier europäischen Tageszeitungen, darunter das „Handelsblatt“.

„Jede nationale Zentralbank in der Eurozone ist unabhängig und darf keine Anweisungen von Regierungen entgegennehmen. Dies ist in den Verträgen festgeschrieben“, betonte Lagarde. Die Deutsche Bundesbank ist mit etwas mehr als 26 Prozent größter Anteilseigner der gemeinsamen Notenbank für den Euroraum mit seinen 19 Mitgliedstaaten.

Bundesverfassungsgericht stellt sich quer

Das Bundesverfassungsgericht hatte am 5. Mai die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) im Rahmen des sogenannten PSPP-Programms beanstandet (Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Die Bundesbank darf sich dem Urteil zufolge künftig nur an diesen Käufen beteiligen, wenn der EZB-Rat deren Verhältnismäßigkeit nachvollziehbar darlegt. Das oberste deutsche Gericht gab der Bundesregierung drei Monate Zeit, die EZB zu einer Überprüfung zu bewegen. Erstmals stellte sich Karlsruhe mit seiner Entscheidung gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Ein Urteil des EuGH aus dem Jahr 2018, in dem alle Anleihekäufe gebilligt wurden, nannte das Bundesverfassungsgericht zudem „willkürlich“ und daher als nicht bindend. Diese Vorabentscheidung aus Luxemburg sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, hieß es in der Entscheidung.

Lagarde pocht auf Unabhängigkeit

„Meine Überzeugung ist klar“, führte Lagarde in dem Interview aus. „Die EZB wurde von den EU-Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung und Ratifizierung des Vertrags mit einem Mandat ausgestattet. Die EZB untersteht der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Wir werden weiterhin dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich sein und den europäischen Bürgern unsere Entscheidungen erklären.“

Hauptziel der EZB ist ein ausgewogenes Preisniveau. Mittelfristig streben die Währungshüter eine Teuerungsrate knapp unter 2,0 Prozent an. Das viele Geld, das über Anleihenkäufe in Umlauf kommt, heizt normalerweise die Inflation an.

Die EZB hatte das Anleihekaufprogramm 2015 gestartet, um die Märkte mit Geld zu versorgen und die gesetzte Inflationsrate von etwas unter zwei Prozent zu erreichen. Kritiker halten das Vorgehen der EZB für eine versteckte Staatsfinanzierung von verschuldeten Euro-Staaten. In diesem Punkt hatten die Verfassungsbeschwerden jedoch keinen Erfolg.

Reaktionen gehen auseinander

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist auf sehr gemischte Reaktionen gestoßen. Viele Analysten sehen den Zeitpunkt angesichts der Corona-Krise als besonders unglücklich, da die EZB vor allem momentan effizient und schnell in der Lage sein muss zu reagieren, um die Wirtschaft vor den desaströsen Folgen des ökonomischen Lockdowns abzufedern. Viele sehen Sprengstoff-Potenzial für die Beziehungen innerhalb Europas, da die von der EZB bereitsgestellte Liquidität auch direkte Auswirkungen auf die meisten Gesellschaftsbereiche hat. Im Enstfall könnten ohne das Geld der EZB in einer Kettenreaktion Pleiten und anderweitige Vermögensverluste entstehen, die sehr viele Menschen betreffen würden. Durch die seit der Finanzkrise jahrelange Phase der Nullzinsen und Anleihekäufe hängen die Märkte am Tropf der EZB. Was passiert, wenn man den Stecker zieht, weiß niemand so wirklich.

Andere sehen das Urteil als harmloser, als es auf den ersten Blick scheint. So auch Commerzbank-Volkswirt Jörg Krämer. Für ihn ist klar, dass das Bundesverfassungsgericht grünes Licht für die Anleihekäufe geben wird, sobald die EZB die geforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit nachholen wird.

Auf ganz lange Sicht wirft eine solche Finanzierung der Märkte und der Wirtschaft über Staatsanleihen dennoch große Fragen auf, zum Beispiel nach der Nachhaltigkeit dieser Methode, eine Wirtschaftszone zu finanzieren. Zombiefirmen, Inflationsgefahr und eine immer stärkere Stagnation der Wirtschaft, wie es in Japan nach Jahrzehnten einer solchen Finanzierung durch die eigene Zentralbank der Fall ist, sind nur einige Szenarien, die viele Experten zeichnen.

onvista-Redaktion/dpa-AFX

Titelfoto: Alexandros Michailidis / Shutterstock.com

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