Libanon bittet nach Explosionskatastrophe um rasche Hilfe

Reuters · Uhr

- von Samia Nakhoul und Ellen Francis

Beirut (Reuters) - Nach der Explosionskatastrophe in Beirut bittet der libanesische Präsident Michel Aoun eindringlich um rasche internationale Hilfe. Unterstützung aus dem Ausland müsse schnell kommen, weil sein Land bereits unter der seit längerem vorherrschenden Wirtschaftskrise leide, sagte Aoun in einer TV-Ansprache am Mittwoch.

Rettungskräfte suchten in den Trümmern unter Hochdruck nach Überlebenden der verheerenden Explosion in einer Lagerhalle im Hafen der libanesischen Hauptstadt, bei der mindestens 100 Menschen ums Leben gekommen sind und fast 4000 Menschen verletzt wurden. Die Regierung vermutet als Auslöser hochexplosives Material, das dort seit Jahren gelagert worden sei.

Zahlreiche Länder boten dem Libanon Unterstützung an. Auch Deutschland sagte schnelle und unbürokratische Hilfe zu. Der Libanon könne in dieser schweren Zeit auf die Unterstützung der Bundesregierung zählen, schrieb Kanzlerin Angela Merkel in einem Kondolenztelegramm an Ministerpräsident Hassan Diab. Das Technische Hilfswerk (THW) soll nach Möglichkeit noch am Mittwoch ein Team mit 47 Helfern nach Beirut entsenden, um unter den Trümmern nach Vermissten zu suchen. "Mit der Bundeswehr und unseren humanitären Helfern schauen wir, wie wir weitere Hilfe für die Aufräumarbeiten und Versorgung der Zivilbevölkerung bereitstellen können", kündigte Außenminister Heiko Maas in der "Bild"-Zeitung an. "Allein lässt sich eine solche Krise nicht bewältigen, das ist für kein Land möglich. Libanon kann auf Deutschlands Hilfe zählen."

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will am Donnerstag in den Libanon reisen. Außenminister Jean-Yves Le Drian kündigte zudem an, die internationale Gemeinschaft für eine Unterstützung zu mobilisieren. Die Regierung in Paris hat erklärt, 55 Sicherheitskräfte, sechs Tonnen an medizinischer Hilfe und ein Team mit zehn Notärzten in den Libanon zu schicken. Beide Länder haben historisch enge Beziehungen. Auch zahlreiche andere Staaten wie die USA, Russland, die Türkei, und Großbritannien kündigten Hilfe an. Ebenso Israel, dass mehrere Kriege mit der libanesischen Hisbollah-Miliz geführt hat, wie auch der Iran, der der Hauptunterstützer der islamistischen Organisation ist.

"GANZ VIELE RIESENKRISEN GLEICHZEITIG"

Der Libanon steckt bereits seit längerem in einer schweren Wirtschaftskrise. Verschärfend hinzu kommt nun noch die Corona-Pandemie. "Der Libanon befindet sich gerade in ganz vielen Riesenkrisen gleichzeitig", sagte der Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung im Libanon, Kristof Kleemann, der Nachrichtenagentur Reuters. Es herrsche eine Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent, die Währung habe seit Oktober über 80 Prozent an Wert verloren. "Man schätzt mittlerweile, dass über 50 Prozent der Libanesen in Armut leben." Hinzu komme die Corona-Pandemie. "Wir waren hier gerade im zweiten Lockdown, weil es eine enorme zweite Welle hier gab. Die Krankenhäuser sind an ihren Kapazitätsgrenzen." Deswegen hätten sie nach der Explosion häufig nur noch die Patienten behandeln können, bei denen es um Leben und Tod gegangen sei. "Viele andere wurden an den Türen abgewiesen." Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie führten zu "einem schrecklichen Kollaps der Gesundheitsversorgung".

Ein weiteres Problem droht nun bei der Lebensmittelversorgung. Denn auch der Getreidespeicher im Hafen wurde zerstört. Die Reserven reichten nur noch für knapp einen Monat, sagte Wirtschaftsminister Raoul Nehme. Das Land verfüge aber zusammen mit den Schiffslieferungen, die auf dem Weg seien, über genügend Vorräte, um seinen Bedarf zu decken. "Es gibt keine Brot- oder Mehlkrise", betonte der Minister.

Präsident Aoun sagte, dass 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, das sowohl zur Herstellung von Dünger als auch von Sprengstoff verwendet werden kann, sechs Jahre lang ohne Sicherheitsmaßnahmen im Hafen gelagert worden seien. Er bezeichnete dies als "inakzeptabel" und versprach eine zügige und transparente Aufklärung der Umstände und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Sicherheitskreisen und Medienberichten zufolge wurde die Explosion womöglich durch Schweißarbeiten an einer Lagerhalle ausgelöst. Eine mit den Ermittlungen vertraute Person sprach von jahrelanger Fahrlässigkeit und Untätigkeit. Ein Feuer sei von einer Lagerhalle auf die Halle mit dem Ammoniumnitrat übergesprungen.

Zahlreiche Einwohner richteten ihre Wut aber gegen die politische Führung, der sie Korruption und jahrelange Misswirtschaft vorwerfen. "Diese Explosion besiegelt den Zusammenbruch des Libanon", sagte Hassan Zaiter, Manager eines schwerbeschädigten Hotels. Schuld sei die politische Elite.

BÜRGERMEISTER: ES SIEHT AUS WIE IM KRIEGSGEBIET

An der Absperrung zum Hafen von Beirut versammelten sich zahlreiche Menschen, um Informationen über vermisste Angehörige zu erhalten. Das Rote Kreuz koordinierte sich mit dem Gesundheitsministerium, um Leichenhallen einzurichten, da die Krankenhäuser überfüllt waren. Eine Krankenschwester im Clemenceau Medical Center in Beirut sagte, in ihrem Krankenhaus habe es nach der Explosion ausgesehen wie in einem Schlachthof. Die Flure und Aufzüge seien voller Blut gewesen. Die Explosion hatte Fassaden von Gebäuden gerissen, Möbel wurden aus den Häusern geschleudert und die Straßen mit Glas und Schutt übersät. Autos in der Nähe des Hafens wurden durch die Luft gewirbelt. "Es sieht aus wie in einem Kriegsgebiet", sagte Bürgermeister Jamal Itani. Er schätzte die Schäden auf mehrere Milliarden Dollar.

Die Explosion ereignete sich am Dienstag um kurz nach 18.00 Uhr. Sie war so massiv, dass sie sogar im rund 160 Kilometer entfernten Zypern zu hören war. Videoaufnahmen der Katastrophe zeigten zunächst einen Brand und eine Rauchsäule, die aus dem Hafen aufstieg, gefolgt von einer gewaltigen Explosion, die eine weiße Wolke und einen Feuerball in den Himmel schickte. Die Explosion weckte auch Erinnerungen an den Bürgerkrieg von 1975-90 und seine Nachwirkungen, als es immer wieder zu Bombenanschlägen und israelischen Luftangriffen kam. "Die Druckwelle schleuderte mich meterweit weg. Ich war benommen und voller Blut. Die Bilder des Anschlags auf die US-Botschaft 1983, den ich miterlebt habe, schossen mir wieder in den Kopf", sagte Huda Baroudi, ein Designer aus Beirut.

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