onvista-Börsenfuchs: Lieber Chicago-Blues als Lockdown-Blues

Der onvista-Börsenfuchs · Uhr

Hallo Leute! Als früherer Musiker denke ich beim „Blues“ an Chicago, wo die Urformen zum mit E-Gitarren elektrifizierten (weißen) Blues weiterentwickelt wurde. Heute habe ich eine neue Variante kennengelernt - den Lockdown-Blues. Den beschreiben die Frankfurter Verhaltensanalysten von Sentix in ihrer jüngsten Stimmungsumfrage bei institutionellen und Privatanlegern. Der Tenor ist gedämpft, skeptisch, fast depressiv. Eben ein Blues, zu dem ja auch das herbstlich-graue Wetter passt. Die schweren Sorgenpakete (Corona, Inflation, Ost-West-Spannungen) lasten schon seit Wochen auf meinem sonst fröhlich-optimistischen Gemüt. Hauptgrund: Ich beobachte zu viele Menschen (einschließlich der Börsianer), die das Gefahrenpotenzial vor allem der Pandemie nicht erkennen und deshalb nicht an sich heranlassen.

Und so ticken die vielen, von Sentix befragten internationalen Finanzmarktexperten: Die Weltwirtschaft befindet sich nach wie vor in einem konjunkturellen Abkühlungsprozess. Dieser verläuft in den meisten Regionen geordnet. Die Lagewerte bilden sich zurück, dagegen bleiben die mittelfristigen Erwartungen stabil oder verbessern sich sogar: „Damit wird unsere Erwartung, dass wir einen ‚mid-cycle-slowdown‘ durchlaufen, prinzipiell bestätigt.“ Schlechter sieht es dagegen laut Umfrage in Euroland aus. Die verschärften Lockdown-Maßnahmen, die vor allem in Deutschland und Österreich ergriffen wurden, dämpfen dort jeweils die Lagebeurteilungen erheblich. Eine Abkühlung bis hin zur Rezession scheint nun nicht mehr ausgeschlossen. Diese Lockdowns treffen die Wirtschaft härter als die zuvor.

Ups, das klingt voll bärisch. Ist es wirklich schon so schlimm? Zur gleichen Zeit krieg ich die Meldung vom Statistischen Bundesamt auf den Schirm, dass die deutsche Industrie im Oktober erheblich weniger Aufträge erhalten hat. Dabei wurden die Befürchtungen der Analysten noch übertroffen. Der deutliche Rückgang ist vor allem auf geringere Großaufträge aus dem Ausland zurückzuführen.

Dann steigt die Stimmung aber, als mir eine Beurteilung des europäischen Aktienmarkts unter die Augen kommt: Der jüngste Rücksetzer an den Börsen hat dazu geführt, dass die Bewertung des Stoxx 600 auf das niedrigste Niveau seit dem Corona-Crash im Frühjahr 2020 gefallen ist. Mit 15 liegt das Kurs/Gewinn-Verhältnis für die erwarteten Gewinne der kommenden zwölf Monate wieder so hoch wie im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre. Gegenüber dem S&P 500 wird der Stoxx 600 inzwischen mit einem außergewöhnlich hohen Abschlag von fast 30 Prozent gehandelt. Selbst um Unterschiede in der Sektorengewichtung bereinigt lag die relative Bewertung europäischer Aktien selten niedriger.

Daraus folgert Deutsche-Bank-Chefstratege Ulrich Stephan für europäische Aktien voll Optimismus, dass sich diese Schere zur Wall Street nicht noch deutlich vergrößern sollte: „Sollte ich Recht behalten mit meinen Erwartungen eines robusten Wirtschaftswachstums, steigender Renditen und in etwa gleich starken Gewinnwachstums in Europa und in den USA, sollte der Stoxx 600 deshalb im kommenden Jahr mit dem S&P 500 mithalten können.“

Hey, wer von Euch darauf setzen will, sollte schwächere Tage jetzt nutzen! Ich würde deutsche Werte (trotz Home Bias) bevorzugen. Mir macht auch die Berliner Ampel Mut (mit Karl Lauterbach als Gesundheitsminister). Gut möglich, dass uns die Corona-Meldungen in absehbarer Zeit wieder aufatmen lassen - obwohl es momentan ganz anders aussieht.

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