Ja, wir leben in postfaktischen Finanzmärkten!

Robert Halver · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Man kommt auch nach dem Genuss von vielen Gläsern Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt nicht am Faktum vorbei, dass sich die (Finanz-)Welt in Unsicherheit, ja in Krise befindet. Und 2017 könnte politisch sogar noch krisenhafter werden: Um den dann neu in sein Amt eingeführten US-Präsidenten Trump ranken sich statt Antworten immer noch so viele offene Fragen wie um den Verbleib des Bernsteinzimmers. Wie sieht seine Geopolitik aus? Mit der Ernennung eines Putin-Verstehers zum Außenminister kann Russland für Amerika auf einmal hui und China pfui werden, muss aber nicht. Auch wirtschafts- und handelspolitisch zeigt sich Trump weiter ziemlich halbstark. Nicht zuletzt ist sein Twitter-Risiko nicht zu unterschätzen. Das alles sind eigentlich keine Zutaten für politisch stabile Finanzmärkte in den USA und schon gar nicht im außenhandelssensitiven Europa und Deutschland. In Europa sieht es politisch ohnehin aus wie bei Hempels unterm Sofa: 2017 wird sich Großbritannien schmutzig von Rest-Europa scheiden zu lassen. Und angesichts von vier Nationalwahlen wird die Demokratie in der Eurozone hart gefordert sein. Das i-Tüpfelchen oben drauf sind italienische Banken, die - um es mit Ex-Fußballtrainer Giovanni Trapattoni zu sagen - so schwach wie Flasche leer sind. Einige müssten dringend abgewickelt werden. Doch dann hätte die europäische Bankenlandschaft ihren Lehman-Moment.
Ich könnte weitere auch geopolitische Konfliktherde aufzählen. Diese Kolumne soll aber ja kein Telefonbuch werden.

Wenn einem so viel Krise wird beschert, ist das bestimmt keinen Aktienaufschwung wert

Angesichts dieser vielen faktisch vorhandenen Risiken haben Aktien keinen wirklich nachvollziehbaren Grund, sich optimistisch zu zeigen. Sie tun es trotzdem: US-Aktienindices notieren auf Rekordständen und sind mittlerweile mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von üppigen 17 bewertet. Der DAX liegt immerhin auf Jahreshöchststand. Risikoentspannend ist ebenso die Volatilität: Der VDAX-New, der die Schwankungsstärke des deutschen Aktienleitindex für die nächsten 30 Handelstage misst, ist nicht weit von seinem Zweijahrestief entfernt. Wir haben eine Jahresend-Rallye, die nicht auf faktischen Argumenten fußt - denn dann hätten wir keine - sondern auf dem postfaktischen Gefühl der Marktteilnehmer Alles wird gut .

Trump - Vom Sorgenkind zur Sorgenpause

Und das gute Gefühl hat einen Namen. Trotz springteufelhafter Rhetorik liegt mit Donald Trump viel Ronald Reagan-Weihrauch in der amerikanischen Luft. Reagan benutzte 1980 den Wahlslogan Lets make America great again . Kommt ihnen der bekannt vor? Die Markteilnehmer glauben an eine Trumpsche Cover-Version der früheren Wirtschaftsdoktrin Reaganomics . Mit vielen Staatsausgaben und dramatischen Steuersenkungen vor allem für Unternehmen soll in Amerika eine Euphorie wie auf einem Kindergeburtstag entfesselt werden, wenn der Zauberer kommt. Der große Haken daran ist, wer für das gute Konjunkturgefühl bezahlen soll. Da die US-Staatskasse leerer als leer ist, müssen Billionen an neuen Staatsschulden gemacht werden. Dazu muss die Schuldengrenze kräftig erhöht werden. Aber Moment, waren es nicht unter Stabilitätsanfällen leidende Republikaner, die Grenzübertritte der Obama-Regierung immer wieder bekämpft haben wie Meister Proper Schmutz auf dem Küchenboden? Sollte die Trump-Administration nicht auch ein wenig an Glaubwürdigkeit interessiert sein? Nein, ein Geschäftsmann wie Trump denkt immer nur an eins: An Rendite. Der wirtschaftliche Wohlfühleffekt heiligt selbst die stabilitätsfremdesten Mittel.

Früher war Geldpolitik noch Geldpolitik, heute ist Geldpolitik eindeutig Politik

Ein besonders wohliges Gefühl bei Anlegern vermittelt die EZB. Sie sorgt jetzt auch für politische Ruhe im Euro-Karton. So hat Mario Draghi die zuletzt beschlossene Verlängerung der Anleihekäufe um neun Monate bis Ende 2017 nicht nur mit schwacher Konjunktur und Teuerung gerechtfertigt, sondern ganz klar mit politischen Argumenten. So hat er sich auf der Pressekonferenz nach der letzten Sitzung klar geoutet: "Schauen Sie sich nur den Wahlkalender für das kommende Jahr an. Das allein ist schon eine Quelle von Unsicherheit". Um Euro-feindliche Wählerabstimmungen zu verhindern, betreibt die EZB - böse formuliert - Weihnachtsgeschenk-ähnliche Wirtschafts¬politik zugunsten des Machterhalts der Euro-freundlich Regierenden. Euro-Austritte sollen so unwahrscheinlich gemacht werden wie Weiße Weihnachten in der Südsee. Ansonsten wäre das politische Monster in Europa nicht mehr zu stoppen. Und mit dem Wink des Zaunpfahls, dass weiterhin Konjunkturrisiken in der Eurozone bestehen, gibt Draghi den Anlegern das Gefühl, dass sein politisches Pulver noch lange nicht verschossen ist. Damit verschafft er der Politik nicht nur vorübergehend Zeit. Nein, seine Euro-Rettung ist zu einer Art Endlosschleife geworden. Zinsänderungsrisiko und EZB passen zusammen wie Tofu und Mettbrötchen. Allerdings ist die EZB mit dieser Politisierung nicht mehr unabhängig. Na und, immerhin haben wir doch ein politisch beruhigendes Gefühl! Ein bisschen Verlust ist doch immer, oder?

Die Rückkehr zur verbotenen staatlichen Bankenrettung

Und um einen neuen Lehman-Moment in Italien zu verhindern, muss man eben auch die tatsächlichen Regeln der Bankenunion flexibel interpretieren, sozusagen mit Gefühl betrachten. Wenn es hart auf hart kommt, können fünf auch einmal gerade sein. Eigentlich sollte ja der Staat, also die Steuerzahler, als letzte Instanz für die Haftung angeschlagener Banken aufkommen. Aber die privaten italienischen Anleger in Bankanleihen sollen bloß nicht für die Rettungen von Banken bluten. Ansonsten könnten sie sich bei den nächsten italienischen Parlamentswahlen rächen. Schon wieder heiligt der Zweck die Mittel. Man muss doch Prioritäten setzen. Pragmatismus geht vor Ideologie. Und so haben die Anleger insgesamt das gute Gefühl, dass jede faktische Krise umschifft werden kann. Es leben die postfaktischen Aktienbörsen, auch wenn sie nur eine gefühlte Scheinwelt sind. 

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: http://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128 Hinzufügen

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