Neumünster – Stadt des Verbrechens

HANDELSBLATT · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Zwischen Backstein- und Fachwerkhäusern, dem Tierpark und der Klosterinsel wohnt irgendwo das Verbrechen. Diebe, Totschläger und Vergewaltiger scheinen sich in Neumünster zu tummeln, einer mittelgroßen Stadt mitten in Schleswig-Holstein.

Hamburg ist 40 Auto-Minuten entfernt. Dort ist die Reeperbahn, dort lauern Mord, illegale Prostitution und Kneipenprügelleien – sollte man denken. Doch die überraschende Hochburg der Kriminellen ist hier – in der knapp 77.000 Einwohner-Stadt. Zumindest wenn man der Statistik glaubt. In keiner vergleichbar großen Stadt registriert die Polizei bundesweit mehr Straftaten.

Im Zukunftsatlas 2013 des Forschungsinstituts Prognos liegt die kreisfreie Stadt bei der Kriminalität damit ganz vorn. Prognos hat exklusiv für das Handelsblatt Gegenwart und Perspektiven der 402 kreisfreien Städte und Landkreise anhand von Kennzahlen zu Wirtschaft, Bevölkerung und Infrastruktur bewertet. Und eben zu polizeilich gemeldeten Fällen. Diebstähle machen 44 Prozent der gemeldeten Straftaten aus. Neumünster, die viertgrößte Stadt des nördlichen Bundeslandes, nimmt damit einen überraschenden, aber unrühmlichen Treppchenplatz ein.

14.619 polizeilich gemeldete Fälle kommen auf 100.000 Einwohner in Neumünster – hochberechnet, weil Neumünster nur knapp 77.000 Einwohner hat. Absolut waren es 2012 11.248 von der Polizei registrierte Fälle. Krimineller geht's laut der Statistik nur in Frankfurt am Main mit 16.310 polizeilich gemeldeten Fällen pro 100.000 Einwohner im Erwachsenenalter und Düsseldorf (14.966) zu.

Die Kriminalitäts-Spitzenwerte für Düsseldorf und Frankfurt haben ebenfalls zum Großteil eine einfache Erklärung: Dort treiben die Flughäfen die Statistik in die Höhe. Eine solche Erklärung gibt es für Neumünster nicht 0 und die Stadt liegt statistisch noch vor der „Flughafenstadt“ Hamburg.

Und. In Neumünster geht die Tendenz weiter nach oben: 2011 waren es dort noch 500 Straftaten weniger gewesen. Das ist eine Entwicklung gegen den Trend, denn im Land sinkt die Rate.

Bundesweit Schlagzeilen machte die Stadt etwa mit dem Krieg zweier verfeindeter Motorradclubs, von denen einer – die „Bandidos MC Probationary Chapter Neumünster“ – aus dem schleswig-holsteinischen Stadt stammte und letztlich verboten wurde. Ebenso wie die Widersacher aus Flensburg.

Anzeigebereitschaft ist im Norden Deutschlands höher

Im Ortsteil Gadeland befindet sich außerdem ein deutschlandweit bekannter Treff von Neonazis („Club 88“). Bei politisch motivierter Gewalt waren 2012 drei Gewalttaten den Rechten und sieben den Linken zuzuordnen.

Doch solche Klubs und Treffs gibt es auch anderswo in Deutschland. Allein das erklärt längst nicht den Spitzenwert. Im kleinen Neumünster steckt der Teufel im Detail.

Bei der Registrierung der Straftaten fängt es an. Denn zwischen „angezeigt“ und „tatsächlich passiert“ liegt die Dunkelziffer. Und die ist im Süden Deutschlands wesentlich höher als im Norden. „Seit vielen Jahren beobachten wir ein Nord-Süd-Gefälle“, sagt Dirk Baier, stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. In Norden sei die Anzeigebereitschaft um etwa ein Viertel bis ein Fünftel höher als im Süden.

„In Bayern und Baden-Württemberg ist es eher verbreitet, Dinge auf informellem Wege zu regeln“, sagt Baier. Regelmäßig vom Forschungsinstitut durchgeführte Dunkelfeldbefragungen belegten das. Beide Statistiken zusammengenommen zeigten kaum Unterschiede zwischen Nord und Süd – und zeichnen daher ein Bild, das laut Baier näher an der Realität ist, als die nackte Zahl der gemeldeten Fälle.

Zudem hängt die Statistik stark von der Polizeipräsens ab. „Wenn Sie am Bahnhof häufig patrouillieren, werden Sie zwangsläufig auch mehr Drogendelikte verzeichnen“, sagt Baier. Vieles liegt demnach auch an personeller Ausstattung und am Ermessungsspielraum der Polizei.

Ein weiteres Beispiel: Die Grenze zwischen Sachbeschädigung und versuchtem Wohnungseinbruch ist fließend. „Aber Wohnungseinbrüche sind bei der Bevölkerung mit vielen Ängsten besetzt. Da macht man dann mal eher eine Sachbeschädigung draus“, sagt Baier. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob eine Gewalttat als politisch motiviert eingestuft wird oder nicht.

„Die Kriminalitätsstatistik muss immer von mehreren Seiten kritisch hinterfragt werden, sie kann aber auf jeden Fall Entwicklungen sichtbar machen“, sagt Baier. Etwa bei Mord – einem Delikt, der in der Regel auch zur Anzeige gebracht wird – zeigt die Statistik einen deutlichen Rückgang der Fallzahlen. Gab es etwa 1993 noch 660 Morde waren es 2012 nur noch 290 bundesweit.

Ausländer begehen Straftaten, die für Deutsche keine wären

In Neumünster kommt ein ganzer Strauß an Faktoren – Wissenschaftler nennen das Drittvariablen – hinzu, der die Kausalität hohe Kriminalitätsrate gleich viel Gefahr für die Bürger nicht stützt. So gibt es in Neumünster etwa ein Auffanglager für Flüchtlinge und Asylsuchende. Und die begehen Straftaten, die für Deutsche gar keine wären.

So machen sie sich etwa strafbar, wenn sie das Stadtgebiet verlassen. Dass solche Fälle in der Regel mit der Anzeige direkt geklärt sind, erhöht nicht nur die Kriminalitäts- sondern auch die Aufklärungsquote.

Die liegt in Neumünster bei knapp 53,4 Prozent und damit nur ganz leicht unter dem Bundesschnitt (54,4 Prozent). So lässt sich die Aufklärungsquote schönen. Ähnlich verhält es sich mit Flüchtlingen, die offiziell illegal einreisen und am Flughafen aufgegriffen werden: Fall angezeigt, Fall gelöst. „Außerdem ist die Anzeigebereitschaft bei Delikten, die von Ausländern begangen werden, deutlich höher – um etwa 50 Prozent“, sagt Baier.

Bei Neumünster kommen noch weitere Faktoren dazu, die die Stadt statistisch zum Ausreißer machen. Sie ist eine der vier Städte in Schleswig-Holstein, die keinem Kreis angehört. Und dort wo ländlicher Raum fehlt und sich alles auf Ballungszentren mit mehr Menschen konzentriert, ist die Kriminalität naturgemäß höher.

„Wir müssen allerdings einräumen, dass bei uns junge Intensivtäter überrepräsentiert sind“, sagt Sönke Hinrichs von der Neumünsteraner Polizei, verweist aber auf zahlreiche Projekte für Intensivtäter, bei denen Gerichte, Polizei und Jugendeinrichtungen zusammenarbeiten.

Den gesamten „Zukunftsatlas 2013“ des Forschungsinstituts Prognos finden Sie hier.

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