Zweifel an neuem Alzheimer-Hoffnungsträger von Biogen in Europa

Reuters · Uhr

- von Natalie Grover

London (Reuters) - Der US-Biotechkonzern Biogen und sein japanischer Partner Eisai haben mit einem neuen Alzheimer-Medikament Hoffnungen geweckt.

Doch europäische Alzheimer-Experten zweifeln, dass der Nutzen des Medikaments Lecanemab dessen gesundheitliche Risiken womöglich nicht aufwiegt. Im italienischen Universitätskrankenhaus Santa Maria in Terni und andernorts in Europa erkundigen sich verzweifelte Patienten bereits nach Lecanemab, wie Carlo Colosimo berichtet, der Leiter der Neurologie-Abteilung der Klinik. "Aber wir müssen das Gesamtbild betrachten, und ich kann für die Mehrheit der Experten in meinem Land sagen, dass es sich nicht lohnt."

Lecanemab zielt darauf ab, das Fortschreiten von Alzheimer zur verlangsamen, indem es Ablagerungen des Proteins Beta-Amyloid aus dem Gehirn entfernt. Im Januar hatte das Mittel in den USA eine beschleunigte Zulassung der Arzneimittelbehörde FDA erhalten. Die reguläre Zulassung dort wird bis zum 6. Juli erwartet, was Lecanemab zum ersten krankheitsmodifizierenden Alzheimer-Medikament überhaupt machen würde, das diesen regulatorischen Meilenstein erreicht. Aktuelle Arzneien behandeln nur die Symptome, ändern aber nicht den Verlauf der Krankheit. In Europa befindet sich das Mittel in der behördlichen Prüfung.

Studien hatten gezeigt, dass Lecanemab den kognitiven Verfall bei Alzheimer-Patienten im frühen Stadium der Krankheit um 27 Prozent verlangsamt. Für bestimmte Patienten birgt die Behandlung aber schwere Nebenwirkungen, denn bei fast 13 Prozent der rund 1800 Patienten umfassenden Studie wurde Lecanemab mit einer gefährlichen Art von Gehirnschwellung in Verbindung gebracht. Experten in den USA schätzten den Gesamtnutzen des Mittels im Verhältnis zum Risiko aber immer noch als hoch ein. Doch in Europa erklärten neun Neurologen und Forscher aus sechs Ländern gegenüber Reuters, dass Lecanemab im Falle einer Zulassung wahrscheinlich nicht weit verbreitet sein wird. Davon gehen auch Analysten aus.

Ärzte merken an, dass die Wirkung des Mittels womöglich klinisch nicht aussagekräftig genug ist, wenn das Risiko einer Hirnschwellung, der wahrscheinlich hohe Preis und die begrenzten personellen und finanziellen Mittel für die Verabreichung der zwei monatlichen Infusionen sowie die Überwachung der Hirnschwellung mit MRT-Scans gegeneinander abgewogen werden. In Europa leben schätzungsweise sieben Millionen Menschen mit Alzheimer - eine Zahl, die sich nach Angaben des European Brain Council bis 2030 verdoppeln wird.

KEIN ALLHEILMITTEL

Neurologe Colosimo, der Mitglied eines unabhängigen Gremiums ist, das die europäische Arzneimittelbehörde EMA gelegentlich zu neurologischen Behandlungen berät, bezweifelt, dass Lecanemab für Patienten klinisch bedeutsam ist. Obwohl die Studienergebnisse statistisch signifikant seien, wäre es nicht überraschend, wenn die EMA eine Zulassung ablehnen würde, glaubt er. Die EMA wird sich voraussichtlich Ende dieses Jahres oder Anfang 2024 äußern, lehnte jedoch zum jetzigen Zeitpunkt eine Stellungnahme ab. Analysten gehen zwar davon aus, dass die EMA das Mittel zulässt, der Großteil des Umsatzes mit Lecanemab wohl aber in den USA erzielt wird. Die Experten von Barclays erwarten bis 2032 einen Umsatz von 2,6 Milliarden Dollar in Europa und 3,7 Milliarden Dollar in den USA.

Der deutsche Alzheimer-Forscher Frank Jessen warnt davor, Lecanemab als Allheilmittel zu sehen. "Das wäre eine zu große Erwartung", sagt er. "Es verlangsamt nur das Fortschreiten der Krankheit. Für die Patienten ist es nicht einfach, das zu verstehen." Eine 18-Punkte-Skala, die in der Studie verwendet wurde, um Funktionen wie Gedächtnis und Problemlösungen zu messen, zeigte nur einen geringen absoluten Unterschied zwischen den Patienten, die Lecanemab erhielten, und denen, die ein Placebo bekamen. Giovanni Frisoni, Leiter des Gedächtniszentrums in Genf, glaubt, dass Patienten von der Wirkung enttäuscht sein könnten. "Als Mediziner, die seit 30 Jahren daran arbeiten, das erste wirksame Medikament zu sehen, schreien wir vor Freude, aber als Patient sagt man: 'Okay, ist das alles?'"

Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lagen die Kosten für die Pflege von Menschen mit Demenz in Europa bei 392 Milliarden Euro oder 27.815 Euro pro Person im Jahr 2019. Darin sind unter anderem Kosten für die Krankenhauspflege, Medikamente, Diagnostik und Langzeitpflegeeinrichtungen enthalten. Der Einsatz von Lecanemab könnte diesen Betrag noch erhöhen, denn in den USA wird mit Kosten von rund 26.500 Dollar pro Jahr gerechnet, wenngleich die meisten Länder in Europa wohl einen niedrigeren Preis aushandeln werden.

Für das Screening in Frage kommender Patienten durch Lumbalpunktionen zur Analyse des Nervenwassers oder PET-Gehirnscans zum Nachweis von Amyloid wären diagnostische Geräte und spezialisiertes Personal erforderlich. Doch im Gesundheitswesen sind die personellen Ressourcen bereits eh knapp. "Ist dieses Medikament wirklich das, was wir in unsere überlasteten Gesundheitssysteme investieren sollten?", fragt der Neurologe Edo Richard vom Radboud University Medical Centre in den Niederlanden. "Ich denke, es ist nicht realistisch. Und es ist nichts, was wir anstreben sollten."

(Geschrieben von Patricia Weiß. Redigiert von Olaf Brenner. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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