In der Hand der Genossen

HANDELSBLATT · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Bevor die neue Regierung aus Union und SPD ihre Arbeit aufnehmen kann, muss die SPD-Basis in einem Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag abstimmen. Stimmen die SPD-Mitglieder zu, könnte die neue Regierung mit der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin vor Weihnachten vereidigt werden. Sagen die SPD-Mitglieder nein, wären Neuwahlen wahrscheinlich. So sehen die bisherigen Szenarien aus. Was bislang noch niemand auf dem Zettel hatte ist die Frage, inwieweit es überhaupt rechtens ist, dass die SPD ihren Mitgliedern so viel Macht zugesteht.

Die Spitzen-Genossen schert das wenig. Sie haben nur ein Ziel: Mit einer Werbetour quer durch Deutschland wollen sie die letzten sozialdemokratischen Zweifler überzeugen. Zur ersten Regionalkonferenz heute Abend in Hofheim bei Frankfurt/Main werden der Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel und der hessische SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel erwartet. Beide sind sich ihrer Sache sehr sicher, zumal schon zahlreiche SPD-Spitzenpolitiker – auch Linke – eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag empfahlen. An der Basis vieler Landesverbände herrscht jedoch Skepsis über das erneute Zusammengehen mit CDU und CSU. Sicher ist also, dass nichts sicher ist. Die Genossen haben es in der Hand, ob Deutschland vor Weihnachten eine arbeitsfähige Regierung bekommt oder nicht.

Dass eine Partei bei der Bildung einer Bundesregierung eine derart große Machtfülle besitzt, ist ein Novum in Deutschland und weckt Zweifel, ob das auch rechtens ist. Kritik an der SPD-Besonderheit gab es in den vergangenen Wochen ohnehin schon zuhauf – auch wenn Merkel bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags versuchte, die Bedenken damit zu zerstreuen, als sie sagte, bei dem Genossen-Votum handle es um einen „ganz normalen Vorgang“.

Andere halten das aber nicht für so normal wie Merkel. Kritiker beklagen, dass sich am Ende vielleicht 100.000 oder 200.000 der rund 470.000 SPD-Mitglieder an der Abstimmung beteiligen werden und diesen dann mehr Macht über die Regierungsbildung gegeben werde als den Millionen Wählern am 22. September. Das Thema beschäftigt inzwischen auch Verfassungsjuristen. Es geht um die Frage, inwieweit das Vorgehen der Genossen mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die Antwort des Leipziger Staatsrechtlers Christoph Degenhart dürfte der SPD nicht gefallen. „Auch wenn es weder im Grundgesetz noch im Parteiengesetz oder im Abgeordnetengesetz eine Bestimmung gibt, die Mitgliederbefragungen explizit verbietet, halte ich sie in diesem Fall für verfassungsrechtlich nicht legitim“, sagte Degenhart Handelsblatt Online.

Degenhart begründete seine Vorbehalte mit dem Grundsatz des freien Mandats nach Artikel 38 des Grundgesetzes, der auch bei der Kanzlerwahl gelte. „Auch wenn natürlich das Ergebnis der Mitgliederbefragung für die Abgeordneten bei der Stimmabgabe nicht formell verbindlich ist, kommt die Befragung aus meiner Sicht jenen Aufträgen und Weisungen nahe, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeschlossen sind“, erläuterte der Verfassungsjurist.  Die Parteien als solche dürften aber nicht über die Stimmabgabe der Abgeordneten bei der Kanzlerwahl bestimmen. Die Mitgliederbefragung habe jedoch „Elemente eines imperativen Mandats, das es nach dem Grundgesetz nicht geben darf“, so Degenhart.

„Mitgliederbefragung ist rechtlich unverbindlich“

So weit wie Degenhart will der Rektor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Joachim Wieland, nicht gehen. Verfassungsrechtlich gehe alles mit rechten Dingen zu, sagte Wieland Handelsblatt Online. Das Genossen-Votum entzaubert er auf andere Weise. „Die Mitgliederbefragung der SPD ist rechtlich nämlich ebenso unverbindlich wie Entscheidungen von Parteigremien über Regierungskoalitionen“, stellt er fest. Verbindlich könnten daher nur die Abgeordneten im Deutschen Bundestag über die Unterstützung einer Regierung und damit über Koalitionen entscheiden. „Sie sind nicht an das Ergebnis einer Mitgliederbefragung gebunden“, betonte Wieland.

Ähnlich argumentiert der Staats- und Verwaltungsrechtler Christian Pestalozza von der Freien Universität zu Berlin – auch, wenn er die Einwände der Kritiker für berechtigt hält. So stehen diverse Fragen im Raum, die bisher noch unbeantwortet sind. Etwa, ob Parteien  darüber bestimmen dürfen, wer mit wem und auf welcher Grundlage im Bundestag den Kanzler wählt. Dürfen Parteien also über Koalitionsvereinbarungen direkten Einfluss auf die Kanzlerwahl ausüben oder sind es nicht vielmehr die Abgeordneten und ihre Fraktionen, denen dieses Recht obliegt?

Für Pestalozza geht es bei diesen Fragestellungen „weithin gar nicht um Recht, sondern um außerrechtliche Politik“. „In welchem Verfahren eine Partei sich verbindlich festlegt, bleibt im Rahmen insbesondere des Parteiengesetzes ihr überlassen“, sagte der Jurist Handelsblatt Online. Der Mitgliederentscheid der SPD sei daher nicht problematischer als zum Beispiel der Vorstands-Entscheid einer Partei.

Und selbst wenn die Verhandlungen nicht von den Parteien, sondern von den Fraktionen allein geführt und entschieden worden wären, würde es, wie Pestalozza erläutert, immer Abgeordnete geben, die an ihnen nicht beteiligt seien oder überstimmt würden. „Für sie stellten sich ähnliche Legitimations- und Bindungsfragen.“ Daher wäre es gut, wenn man sich in den Verfassungstexten einmal dieses Komplexes annehme.

Abgesehen davon, ist Pestalozza überzeugt, dass die Fraktionen als Parteien im Parlament froh sein dürften, wenn sie nicht allein die Vereinbarung aushandeln und verantworten müssen. „Förmlich gebunden sind sie an das Ergebnis ohnehin nicht, praktisch allerdings schon“, sagte der Experte. Hier stellt sich die Frage inwiefern eine „parteibasisdemokratische“ Einbindung auch dann zur Geltung kommen muss und also auch Mitgliederbefragungen stattfinden müssen, wenn die Koalitionsvereinbarung missachtet, verändert, ergänzt oder gar gebrochen wird.

Bei Abweichungen vom Koalitionsvertrag Basis erneut befragen?

Pestalozza betonte, dass Koalitionsvereinbarungen nicht rechtsverbindlich seien. Allerdings sagte der Verfassungsjurist auch: „Unabhängig davon stellt sich innerparteilich die Frage, ob nicht auch für größere Abweichungen und Brüche erneut die Mitglieder befragt werden sollten.“  Andererseits sei es Fraktionen auch „nicht verboten“, sie sich entweder nach dem Abstimmungsergebnis zu richten oder auch eine Koalition wieder zu verlassen.

Auch der Leipziger Staatsrechtler Degenhart hob hervor, dass für den Fall, dass die SPD-Mitglieder die Koalitionsvereinbarungen billigen, daraus „keine rechtlichen Bindungen für die Zukunft“ abgeleitet werden könnten. „Die Vorstellung, Abgeordnete müssten sich vor einer Abstimmung die Zustimmung der Basis holen, ist dem Grundgesetz fremd“, unterstrich der Staatsrechtler.

In diese Richtung argumentiert auch der der Speyrer Verfassungsexperte Wieland. Die Befragung der Genossen wertet er daher vornehmlich als „Zeichen der Schwäche der SPD-Führung nach einem missglückten Wahlkampf und nach der verlorenen Bundestagswahl“. Die Parteiführung sehe sich nicht in der Lage, aus eigener Kraft eine Große Koalition zu legitimieren. „Sie geht damit ein großes Risiko ein und wird selbst nach einem für sie positiven Mitgliederentscheid keine Neigung haben, dieses Experiment im Laufe der Wahlperiode zu wiederholen“, ist sich Wieland sicher.

Verfassungspolitisch sei das zu begrüßen, betonte er, „weil sonst die Handlungsfähigkeit der gewählten Regierung beeinträchtigt wäre, auch wenn sich die Bundeskanzlerin rechtlich ebenso wenig wie eine Fraktion im Bundestag um eine Mitgliederbefragung kümmern muss“.

Möglicherweise stellen sich alle die Fragen auch gar nicht, wenn die SPD-Basis sich gegen die Große Koalition entscheidet. Indizien dafür gab es am Wochenende. Der „Spiegel“ berichtete von großem Widerstand gegen ein schwarz-rotes Regierungsbündnis. Das Magazin stützte sich dabei auf Recherchen in 18 Bezirks- und Kreisverbänden sowie 26 Ortsvereinen. Viele Mitglieder seien entschlossen, ihrer Parteiführung die Gefolgschaft zu verweigern und beim Mitgliederentscheid einem Koalitionsvertrag die Zustimmung zu verweigern. Zugleich weigerten sich die Vorsitzenden wichtiger Parteigruppen, die Zustimmung zu empfehlen – etwa der Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels (AfA), Klaus Barthel, und der sächsische Landesvorsitzende Martin Dulig.

Die Nachwuchs-Sozialdemokratin Johanna Uekermann, die sich in zwei Wochen zur neuen Juso-Vorsitzenden wählen lassen will, sagte dem Magazin: „Meine derzeitige Einschätzung ist, dass es keine Mehrheit der Jusos für ein Ja zum Koalitionsvertrag geben wird.“ Die SPD Vorderpfalz und ein Kreisparteitag der Erfurter Sozialdemokraten hätten sich auf eine Ablehnung festgelegt, ebenso der Gothaer Kreisvorstand und die SPD im Thüringer Kyffhäuserkreis. Ein Frankfurter Ortsvereinsvorsitzender wurde mit den Worten zitiert: „Bei uns wird keiner für die Große Koalition stimmen.“

„Dann müssen wir die SPD neu gründen“

SPD-Chef Gabriel ist allerdings überzeugt, dass der Koalitionsvertrag mit der Union nicht an der Parteibasis scheitern wird. „Wir werden eine breite Mehrheit für den Koalitionsvertrag finden“, sagte Gabriel am Mittwoch bei der gemeinsamen Vorstellung der Abmachungen mit Kanzlerin Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer. Auch Skeptiker gegenüber Schwarz-Rot wie der Berliner SPD-Chef Jan Stöß sprachen sich für eine Zustimmung aus. Kritische Stimmen waren zunächst die Ausnahme. Das frühere SPD-Vorstandsmitglied Hilde Mattheis etwa sagte zu Reuters: „Ich kann mir einen Politikwechsel unter Finanzierungsvorbehalt nicht vorstellen.“

SPD-Spitzenpolitiker wollen in den nächsten zwei Wochen bei drei Dutzend Regionalkonferenzen in ganz Deutschland dafür werben, dass die Basis grünes Licht für eine Wiederauflage der großen Koalition von 2005 bis 2009 gibt. Ab Samstag sollen an die rund 475.000 SPD-Mitglieder die Briefwahlunterlagen verschickt werden. Das Ergebnis soll am Abend des 14. Dezember vorliegen. Für die Gültigkeit müssen mindestens 95.000 Genossen teilnehmen. Drei Tage später soll Merkel mit den Stimmen von CDU, CSU und SPD im Bundestag in ihre dritte Amtszeit als Kanzlerin gewählt werden.

Nur wenige Stunden nach Ende der Koalitionsverhandlungen am frühen Mittwochmorgen wandten sich Gabriel und Generalsekretärin Andrea Nahles in einem Mitgliederbrief an die SPD-Genossen. Sie verwiesen darauf, dass ein kleiner Parteitag der Verhandlungsgruppe zehn Punkte mitgegeben habe, die sie habe durchsetzen sollen: „Nach dieser Nacht können wir sagen: Das ist uns gelungen.“ Sie zählten unter anderem den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 auf, Regulierung der Leiharbeit wie auch die abschlagfreie Rente mit 63 für langjährige Versicherte. Damit wird die in der SPD ungeliebte Rente mit 67 für langjährige Beitragszahler ausgehebelt, etwa „für den Lkw-Fahrer, der 45 Jahre auf dem Bock gesessen hat“, wie Gabriel sagte.

„Im Koalitionsvertrag finden sich viele zentrale SPD-Forderungen wieder, die uns gerade in Berlin besonders wichtig waren“, sagte der Berliner SPD-Chef Stöß. Es gebe aus „Berliner Sicht gute Gründe, um dem Koalitionsvertrag zustimmen zu können, auch wenn Schwarz-Rot im Bund nicht unsere Wunschkoalition ist“. Der Parteilinke verwies auf den gesetzlichen Mindestlohn, der auch dazu beitragen werde, das Lohn- und Rentengefälle in Ost und West auszugleichen.

Kritik kam von der Bundestagsabgeordneten Mattheis, die jüngst bei der Wiederwahl des Parteivorstandes gescheitert war. Sie hatte aus ihrer Ablehnung einer schwarz-roten Koalition keinen Hehl gemacht. „Die Vereinbarungen beim Mindestlohn sind für mich enttäuschend“, sagte sie. „Gerade dort, wo der Mindestlohn am nötigsten wäre, wird es ihn bis 2017 aufgrund von Ausnahmen nicht geben.“ Sie habe sich auch klare Aussagen zur Finanzierung von 23 Milliarden Euro Mehrausgaben gewünscht. Im Wahlkampf hatte die SPD dafür noch Steuererhöhungen gefordert.

Entgegen allen Gepflogenheiten präsentierten Union und SPD weder den Zuschnitt der künftigen Regierungsressorts noch welche Parteien welche Ministerien besetzen. Auch die Ministerliste soll erst nach dem SPD-Mitgliedervotum bekanntgegeben werden. Gabriel verteidigte dies: „Innerhalb der SPD gab es den Wunsch, über die Inhalte des Koalitionsvertrages zu entscheiden und nicht über Personalfragen.“

Zu einer Personalfrage ganz anderer Art wird das Mitgliedervotum aber ohnehin. Die gesamte Führungsmannschaft der SPD steht hinter der Koalitionsvereinbarung. Für diese genossen geht es ums Überleben. „Wenn die Basis den Koalitionsvertrag durchfallen lässt, müssen wir die SPD wohl neu gründen“, orakelt ein SPD-Mann aus dem Willy-Brandt-Haus.

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