Joch des Einstiegskurses

Stefan Riße · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Börse ist Psychologie, Massenpsychologie ganz genau genommen. Was sie dabei letztlich so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Anleger an der eigenen persönlichen Psyche scheitert. Börsenlogik unterscheidet sich diametral von unserer Alltagslogik. Die wenigsten schaffen es, mit den im Alltag erlernten Verhaltensweisen zu brechen. Das macht die Mehrheit zu Verlierern und damit den antizyklischen Ansatz attraktiv. Wer nicht zur verlierenden Mehrheit gehören will, muss sich den Umständen am Finanzmarkt anpassen, und zwar zu 100 Prozent. Persönliche Wünsche und Ängste dürfen nicht die Sicht vernebeln.

Im Gewinn oder im Verlust, das ist hier die Frage!

Die wohl stärkste Ablenkung von einer objektiven Beurteilung eines Marktes, in dem man bereits engagiert ist, ist der eigene Einstiegskurs. Jeder Investor oder Trader weiß genau, wo er in ein Engagement eingestiegen ist, und damit zu jedem Zeitpunkt, ob er sich in der Gewinn- oder Verlustzone befindet. Hier beginnt das Dilemma. Denn es ist ein sehr verständlicher Wesenszug der menschlichen Psyche, negative Dinge nicht wahrhaben oder akzeptieren zu wollen, positive hingegen schon. Deshalb ist es nur verständlich, dass wir uns leichter von Engagements trennen können, wenn wir sie mit Gewinn anstatt Verlust abschließen.

Die rosa Brille

Diese Tatsache führt dann zu einer subjektiven Wahrnehmung in Bezug auf unser Engagement. Wenn wir auf steigende Kurse setzen, nehmen wir positive Nachrichten besonders aufmerksam wahr, negative verdrängen wir und tun wir ab. An einem Beispiel erklärt sieht das in der Praxis so aus. Zwei Anleger kaufen eine Aktie. Der eine steigt bei 50 ein, dann steigt die Aktie auf 100 und da steigt dann der andere ein. Dann fällt sie auf 75. Zu diesem Zeitpunkt analysieren beide Anleger die Aktie anhand neuer Geschäftszahlen und kommen zu dem Schluss, dass das Potential eigentlich begrenzt ist. Der Anleger, der zu 50 eingestiegen ist, wird jetzt verkaufen, immerhin hat er noch 50 Prozent Gewinn. Der andere aber sitzt auf 25 Prozent Verlust und fängt nun an zu hoffen, dass die Aktie mit der Gesamtmarktentwicklung oder warum auch immer seinen Einstandskurs nochmals erreicht, damit er dann ohne Verlust aussteigen kann.

Selbsterkenntnis ist der Weg zum besseren Trading

Das Beispiel macht so schön deutlich, welchen Fehler wir hier in diesem Moment machen. Unseren individuellen Einstiegskurs machen wir zum entscheidenden Kriterium dafür, ob wir verkaufen oder nicht. Aber es ist ja klar, dass die Börse keine Rücksicht darauf nimmt, auf welchem Kursniveau irgendein Anleger ein- oder ausgestiegen ist. Das ist eine völlig individuelle Angelegenheit. Der perfekte Anleger steigt deshalb irgendwo ein, wenn er es für richtig hält, und streicht seinen Einstiegskurs aus dem Gedächtnis. So kann er von Anfang an jedes Ereignis, dass für sein Engagement relevant ist, objektiv beurteilen und aussteigen, wenn dies angezeigt scheint, egal, ob er sich nun im Verlust oder im Gewinn befindet. Gelingt mir das zu 100 Prozent? Nein. Ich kann mein Gedächtnis ja auch nicht manipulieren und Dinge löschen. Außerdem wird einem in jeder Brokerplattform ja realtime angezeigt, ob man im Gewinn oder Verlust liegt. Doch der erste Schritt ist die Bewusstseinsmachung dieses Phänomens. Das habe ich permanent im Kopf. Und wenn ich mich ertappe, Nachrichten subjektiv zu betrachten, dann klopfe ich mir auf die Finger. Ich habe mittlerweile keine Schwierigkeiten mehr, Verluste zu realisieren.

Verlust ist Verlust, egal ob realisiert oder nicht

Apropos Verluste realisieren. Hier sind wir beim nächsten Massenirrtum angelangt. Die Idee, nicht realisierte Verluste seien keine echten Verluste, ist kompletter Quatsch. Es mag steuerlich vor allem früher eine Relevanz gehabt haben, ansonsten ist es Mumpitz. Wer es nicht glaubt, der soll ein im Verlust liegendes Engagement während der Handelssitzung einmal glattstellen und dann gleich wieder eingehen. Er wird dabei ein paar Gebühren und die Spanne zwischen Geld- Und Briefkurs (Bid und Ask) bezahlen. Doch die Erfahrung ist den Preis allemal wert. Der Anleger wird feststellen, dass sich für ihn am Tagesende nichts geändert hat. Er hat das gleiche Investment mit den gleichen Chancen und Risiken immer noch im Depot. Nur er hat einmal seinen Verlust realisiert. Die Quintessenz ist einfach: Einstiegskurs so gut es geht ausblenden und Investments unabhängig von der eigenen Position objektiv beurteilen. Und Verluste sind Verluste, egal ob realisiert oder nicht.

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