“Pöbel-Journalismus”

Stefan Riße · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Die Nachrichtenwelt hat sich durch das Internet und Social Media massiv verändert. Das ist dem aufgeklärten Bürger längst klar. Früher gab es gut bezahlte Journalisten, die ausreichend Zeit hatten, eine Geschichte zu recherchieren und Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Hatten sie Zweifel, haben sie es eher nicht geschrieben, oder zumindest deutlich gemacht, dass es sich um Gerüchte handelt. Es war ja gefährlich, einfach irgendwelchen Unsinn in die Welt zu setzen. Denn man kannte ja Ross und Reiter.

„Nachrichtenweiterverbreitungsmaschinen“

Heute verbreiten große Teile der Medien nur noch Nachrichten weiter. Je schneller desto besser, denn umso mehr Clicks lassen sich generieren. Aus irgendeiner Quelle kommt irgendeine Nachricht, und schon wird sie gemeldet, gepostet, getwittert. Keiner fragt mehr nach, von wo und wem die Meldung stammt, und ob die Quelle als seriös einzustufen ist. Zuhauf war dies zuletzt auch beim emotional aufgeladenen Flüchtlingsthema zu beobachten. Da postet irgendjemand, dass es eine Vergewaltigung durch Flüchtlinge gab und die Meldung arbeitet sich “mir nichts Dir nichts” durch das Social Web in die Nachrichtenagenturen vor. Auch wenn es dort noch heißen mag „Gerüchten zufolge“, interessieren tut dieses Detail keinen mehr. Diejenigen, die nur darauf warten, dass ihre Ressentiments bedient werden, stützen sich am Ende in Talkshows darauf, als wären es Fakten. Die anschließende Richtigstellung nimmt keiner mehr wahr, weil bereits die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.

An der Börse ist der Pöbel-Journalismus längst angekommen

Ein deutsches börsennotiertes Unternehmen wurde diese Woche ebenfalls Opfer dieser neuen Form des Journalismus. Da verbreitete eine gänzlich unbekannte Research-Firma namens Zatarra Betrugsvorwürfe gegen Wirecard und setzte das Kursziel auf Null. Und was passierte? Der Kurs stürzte um rund 25 Prozent ab. Am Ende stellte sich heraus, dass Zatarra nicht zu erreichen war, keine Vorgeschichte hat, und die Website von einem Serviceunternehmen gehostet wird, das damit wirbt, dass die Urheber nicht zurückverfolgt werden können. Man fragt sich, wer denn so dumm ist und auf eine solche Meldung reagiert. Nur Privatanleger sicher nicht. Dann wären die Kursverluste nie so hoch ausgefallen. Das Schlimme daran: Es funktionierte ja. Zunächst natürlich für die Urheber der Geschichte. Zuvor wurden hohe Umsätze in Puts getätigt. Und diejenigen, die früh genug absprangen, hatten ebenfalls noch Glück. Der Schaden ist enorm, insbesondere für Wirecard, und diejenigen, die dann im Tief ausgestiegen sind. Auch die hochgelobte Stopp-Loss Order, die hier stumpf verkauft, muss hinterfragt werden.

Wir können es ändern!

Ich hatte mal das Vergnügen, den Sport-Chef von RTL kennen zu lernen. Das ist lange her, und der Herr war der Verantwortliche, als einst Ayrton Senna in San Marino tödlich verunglückte. RTL hatte damals das Rennen auch nach dem Unglück weiter übertragen. Er berichtete von vielen empörten Zuschauern, die ihm im Nachgang schrieben. Er gab allen nur eine Antwort. Sie haben einen „Ausschalter“ an ihrem Fernseher. Und das bringt es auf den Punkt. Solange wir diese zweifelhaften Nachrichten lesen oder uns auf Youtube Filme anschauen, die schwer verletzte wimmernde Menschen zeigen, wie jüngst nach dem Zugunglück in Bayern geschehen, werden sich Menschen animiert fühlen, statt erster Hilfe zu leisten, doch erstmal die Handykamera anzuschalten. Und solange werden Agenturen dann mit zweifelhafter Argumentation solche Filme weiterverbreiten.
Und solange wir ungeprüft irgendwelche Research-Berichte zum Anlass nehmen, auf den Verkaufsknopf zu drücken, solange befördern wir diese Form des Nachrichtengeschäftes und sichern wir ihr Überleben.

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