„Der Brexit-Zerstörer“ – Scharfe Kritik an Parlamentspräsident Bercow – Uralt-Regel verhindert Austritts-Termin

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Der britische Parlamentspräsident John Bercow steht wegen der Anwendung einer 415 Jahre alten Regel beim EU-Austritt stark in der Kritik. Die konservative Zeitung „Daily Express“ nannte ihn am Dienstag auf der Titelseite einen „Brexit-Zerstörer“. Bercows Entscheidung sei „völlig unwillkommen“ und schüre Angst. Premierministerin Theresa May werde nun wohl eine Verschiebung des EU-Austritts beantragen, aber Bercows politische Eitelkeit sei eine „Abrissbirne im wichtigsten politischen Prozess seit Jahrzehnten“.

Das konservative Blatt „Daily Mail“ sprach von einem „Akt der Sabotage“. Der Parlamentspräsident habe „Anti-Brexit-Vorurteile“ , schrieb die Zeitung weiter. Auch die konservative Boulevardzeitung „The Sun“ kritisierte sein Vorgehen scharf und schrieb: „Bercow kann uns mal“ auf der Titelseite. Der Parlamentspräsident steht schon lange im Clinch mit der Boulevardpresse, die für den Brexit trommelt.

Jahrhunderte alte Regel schiebt May den Riegel vor

Bercow hatte der Regierung am Montag einen Strich durch die Rechnung gemacht. Überraschend wies er die Abgeordneten darauf hin, dass das Unterhaus kein weiteres Mal über den denselben Brexit-Deal abstimmen darf. Ohne Änderungen an dem Abkommen verstoße dies gegen eine Regel aus dem 17. Jahrhundert. Demnach darf dieselbe Vorlage nicht beliebig oft innerhalb einer Sitzungsperiode zur Abstimmung gestellt werden.

Bercow habe die Regierung vorab nicht über seine Stellungnahme informiert, bestätigte eine Regierungssprecherin der Deutschen Presse-Agentur. Der Parlamentspräsident hatte bereits mehrfach Entscheidungen gefällt, die etlichen Brexit-Hardlinern nicht gefielen. Ihm wird vorgeworfen, zu EU-freundlich zu agieren.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratschef Donald Tusk wollten sich auf Anfrage zunächst nicht zu den Entwicklungen in London äußern. Tusk hatte am Montag in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen. Ergebnisse wurden zunächst nicht bekannt.

Ursprünglicher Brexit-Termin nicht mehr zu halten

Premierministerin Theresa May war mit ihrem Brexit-Abkommen bereits zwei Mal im Parlament krachend durchgefallen. Bis Mittwoch – also einen Tag vor dem Beginn des EU-Gipfels – sollten die Abgeordneten ein drittes Mal über den zwischen ihr und Brüssel ausgehandelten Vertrag abstimmen. Dies ist nun zeitlich nicht mehr zu schaffen.

Bercow hatte argumentiert, dass May zwischen der ersten und zweiten Abstimmung im Parlament in London „substanzielle Änderungen“ in der Beschlussvorlage vorgelegt hätte. Dies sei nun auch Voraussetzung für eine dritte Abstimmung, betonte der Parlamentspräsident.

Möglicherweise zieht May daraus auch einen Vorteil: Es hatte sich auch für den dritten Anlauf noch keine Mehrheit für den Vertrag abgezeichnet. Das Parlament ist im Brexit-Kurs total zerstritten.

Die Regierung hatte noch bis zuletzt versucht, in langen Gesprächen mit der nordirischen DUP den Widerstand zu überwinden. Die Unterstützung der Partei, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, gilt als Schlüssel für den Erfolg des Deals. Sollte die DUP ihre Haltung ändern – so war die Hoffnung – könnten auch etliche Gegner aus Mays Konservativer Partei einknicken.

Backstop ist der Knackpunkt

Hauptstreitpunkt ist der sogenannte Backstop. Dabei handelt es sich um eine in dem Austrittsabkommen festgeschriebene Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die Regelung sieht vor, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU bleibt, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Brexit-Hardliner befürchten, dies könnte das Land dauerhaft an die Europäische Union fesseln und eine eigenständige Handelspolitik unterbinden. Sie hatten daher eine Befristung oder ein einseitiges Kündigungsrecht für den Backstop gefordert.

Eigentlich wollte Großbritannien am 29. März aus der EU austreten. Der Termin ist aber nicht mehr zu halten. Es wird aber weiter mit einem Antrag bei der EU auf Verschiebung des Austrittsdatums gerechnet.

Bundesaußenminister Heiko Maas zeigte sich für eine „Ehrenrunde“ offen, um einen ungeregelten Brexit und seine vielen Nachteile zu vermeiden. Der SPD-Politiker forderte in Brüssel aber Klarheit von Großbritannien: „Wie lange? Was soll der Grund sein? Wie soll das ablaufen? Was ist eigentlich das Ziel der Verlängerung? Darüber wird man jetzt sprechen.“ Der belgische Außenminister Didier Reynders meinte ebenfalls: „Wir sind nicht gegen eine Verlängerung, aber wir wollen wissen, welche Absichten London damit verfolgt.“

Kritik seitens der deutschen Politik

Der Vorsitzende des EU-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, äußerte sich jedoch kritisch. „Es mangelt der britischen Politik an Konzeptionen“, so der CDU-Politiker in der ARD. „Wenn ich mit 200 Kilometern pro Stunde auf einen Abgrund zurase, dann ist es vielleicht nicht die richtige Strategie zu sagen: Ich brauche mehr Zeit.“

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte in Berlin, er verstehe oft nicht recht, was in Großbritannien vor sich gehe. In der jetzigen Lage würde man in Deutschland oder auch anderen Ländern versuchen, sich über Parteigrenzen hinweg zu einigen. „Das wäre auch für das Vereinigte Königreich nicht die schlechteste Idee.“

In Großbritannien setzt Oppositionsführer Jeremy Corbyn jedoch auf eine Neuwahl. Für den Fall einer erneuten Niederlage hatte der Labour-Chef May mit einem neuen Misstrauensantrag gedroht.

(onvista/dpa-AFX)

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Titelfoto: GagliardiImages / Shutterstock.com

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