Die Jagd nach dem angeblichen Wundermittel
Am frühen Morgen, es ist kurz nach sechs Uhr, reißt das Klingeln seines Handys Pieter de Jager aus dem Schlaf. Ein Arbeiter aus der Frühschicht ist dran. Sie haben die Nashornkuh gefunden. An einem Wasserloch. Sie ist schwer verletzt und stark narkotisiert. Die Nashornkuh Lady, die trächtig ist.
De Jager springt aus dem Bett. Die Sonne geht bereits auf. Es ist Sonntag, der 11. Dezember 2011. De Jager rennt zu seinem Jeep und fährt los. An dem Wagen baumeln noch die bunten Luftballons von der Geburtstagsparty seines Sohnes vom Vorabend. Nur 15 Minuten braucht er, dann hat er das Wasserloch im Fairy Glen Wildpark in Worcester, Südafrika, erreicht.
Die Nashornkuh liegt regungslos im Staub. Zwei Betäubungspfeile stecken noch in ihrem massigen Rumpf. Am Kopf hat sie eine riesige blutende Wunde. Das Horn ist weg. Das große Nasalhorn, das vorne auf der Nase saß, und das Frontalhorn, das ihr direkt auf dem Stirnbein gewachsen war. Wilderer haben beide Hörner abgeschlagen. Mit einer Machete. Ganz nah am Schädel.
De Jager telefoniert eilends aus dem Nachbarort einen Tierarzt heran, der die Verletzung mit einer Mixtur auf Harzbasis behandelt, und dem Tier Antibiotika, Schmerzmittel und Vitamine injiziert. Noch wichtiger ist jedoch, dass er ihm ein Gegenmittel gegen das von Wilderern verwendete Betäubungsmittel M99 spritzt, damit das Tier auf die Füße kommt, denn mit seinem tonnenschweren Gewicht zerdrückt es sich seine eigenen Eingeweide.
De Jager ist außer sich. Auch vier Monate später kommt er wieder bei diesem Punkt an: bei dem Betäubungsmittel. Vier Monate später, als er in seinem Privatreservat vor Besuchern von jenem 11. Dezember erzählt, an dem für ihn die Nashornwilderei vom allgemeinen Problem zur ganz privaten Katastrophe wurde.
M99 wird auf Basis von Etorphin hergestellt, einem Morphinverwandten mit bis zu 3000-facher Potenz. Es ist geeignet, große Tiere zu immobilisieren, gilt aber als schlecht dosierbar und risikoreich. Entweder dosiert man zu niedrig und bringt sich selbst in Gefahr oder zu hoch, und das Tier stirbt. In Deutschland und der Schweiz ist der Wirkstoff überhaupt nicht zugelassen. In Südafrika darf M99 nur an Veterinäre ausgegeben werden. Wie also kommen die Wilderer an das Mittel?
Nashornpulver gilt in Asien als Heilmittel
De Jager, 51, ist ein bulliger Mann mit strohigen Haaren und sehr hellen Augen im braungebrannten Gesicht. Ein Mann der Wildnis, unterwegs meist in Rangeruniform mit einer kleinen südafrikanischen Flagge auf der rechten Hemdseite. Bestimmt keiner, der bei jedem Problem nach härteren Strafen schreit. Aber wie so viele in Südafrika kommt er jetzt zu keiner anderen Lösung mehr.
Wir brauchen strengere Gesetze, sagt de Jager, und bessere Kontrollen. Aber mitunter befällt ihn auch ein fürchterlicher Verdacht.
Bis 2008 wurden in Südafrika, wo rund 90 Prozent aller als bedrohte Art einstuften Nashörner leben, allenfalls ein Dutzend Tiere pro Jahr gewildert. Dann änderte sich das schlagartig. In den staatlichen Wildparks und auch in den privaten Wildgehegen wurde Jagd gemacht. 2010 lag die Zahl der illegal getöteten Nashörner bei 333. Ein Jahr darauf bereits bei 448 – obwohl man aktiv geworden war und aufgerüstet hatte.
26 Wilderer wurden 2011 von Sicherheitskräften direkt erschossen, mehr als 200 Verdächtige festgenommen. Und doch geht es immer weiter. Bis Mitte April 2012 wurden in Südafrika schon wieder mehr als 160 Nashörner gewildert, davon 100 in dem weltberühmten Krüger Nationalpark im Nordosten. Die südafrikanische Regierung hat dorthin inzwischen zusätzliche Ranger entsandt.
Das Nashorn sei ein nationales Heiligtum, das es zu schützen gelte, ist inzwischen die Devise, und man sucht angestrengt Wege aus der Falle. Eine Studie klärt, ob man den Handel unter staatlicher Kontrolle legalisieren soll. Es sind Fragen, wie sie auch im Zusammenhang mit Drogenhandel diskutiert werden. Und wie auch dort ist das wahre Problem nicht das Angebot, sondern die Nachfrage.
Die kommt aus Südostasien. Vor allem dort leben die Menschen, die glauben, dass aus Rhinohorn gewonnenes Pulver die Potenz steigern könne (China) oder gegen Krebs helfe (Vietnam). Zwei Annahmen, die wissenschaftlicher Grundlagen entbehren, denn das Horn besteht aus denselben Stoffen wie die Fingernägel des Menschen, aber dem Glauben an die Heilkraft tut das keinen Abbruch. Und da Asien seit einigen Jahren wirtschaftlich enorm prosperiert, steigt die Zahl derjenigen, die die Wundermittel bezahlen können, also steigt der Bedarf – und es steigt der Preis. Schon kostet das Kilo 55.000 US-Dollar, mehr als Gold.
Zwar ist auch in asiatischen Ländern entsprechend dem Cites-Artenschutzabkommen der kommerzielle Handel mit Rhinohorn illegal, aber die dortigen Behörden stehen nicht direkt im Verdacht der Übereifrigkeit, was die Strafverfolgung angeht. Beispielsweise gibt es laut Tierschützern allein in Vietnam 77 Internetseiten, über die Hornpulver zu bestellen ist.
So groß ist die Nachfrage, ist der Beschaffungsdruck, dass die Wilderer auch in Europa angekommen sind, wo sie an Horn zusammenklauen, was sie in Museen oder Zoologischen Sammlungen finden. Zuletzt wurde an einem helllichten Februarwochenende 2012 ein ausgestopftes Nashornexponat im Offenburger Museum enthornt. Das Tier aber war längst tot, dem war die Attacke egal. In Offenburg entstand niemandem Schaden an Leib und Leben. Anders als tagtäglich in Südafrika.
Narkose ist lebensgefährlich
Der vergleichsweise kleine Fairy Glen Wildpark liegt am Südwestzipfel Südafrikas am Fuße der Brandwachtberge. Das Gelände ist seit 40 Jahren im Familienbesitz der de Jagers und seit zehn Jahren für Touristen geöffnet, die sich in offenen Geländewagen zu wilden Tiere fahren lassen. Zu Löwen oder Gnus, Zebras, Giraffen, Elefanten. Seit acht Jahren gehört auch ein Nashornpaar zum Bestand. Lady, die Kuh, und Higgins, ein Bulle.
Auch der ist in jener Dezembernacht Opfer der Wilderer. Während die von den Betäubungspfeilen getroffene Nashornkuh an Ort und Stelle zusammensackt, stürmt der Bulle nach dem Einschuss in Panik davon und stürzt ein paar hundert Meter weiter in einen Graben. Die Wilderer kletterten zu ihm herunter. Ihm haben sie das Horn derart tief aus dem Gesicht geschlagen, dass sie auch seine Atemwege schwer verletzen.
Drei Tage und Nächte lang bleibt Pieter de Jager draußen bei den Tieren, die nicht fressen und nicht trinken wollen. Als hätten sie sich aufgegeben. Er legt ihnen Tücher über die Augen, die mit künstlich geweiteten Pupillen der grellen Sonne ausgesetzt sind. Schläft direkt neben dem Bullen und spricht ihm Mut zu. Was sonst könnte er tun? In die nächste veterinärmedizinische Klinik transportieren? Dafür hätten die geschwächten Nashörner noch mal narkotisiert werden müssen. Das hätten sie nicht überlebt.
Nach drei Nächten geschieht dann das Wunder. Mitten im südafrikanischen Sommer braut sich über dem Südatlantik eine Unwetterfront zusammen. Für gewöhnlich sind die Regengebiete um diese Zeit viel zu schwach, um das Festland zu erreichen. Doch die Front bahnt sich einen Weg: Völlig unerwartet beginnt es am 14. Dezember in Worcester heftig zu regnen; in den Brandwachtbergen fallen sogar dicke Schneeflocken. Die Nashörner schlecken das Regenwasser gierig aus den Pfützen – und sammeln neue Kräfte.
Vier Wochen später finden die beiden Tiere in der Nähe des Tatorts wieder zusammen. Man spürt, wenn er davon erzählt, wie sehr de Jager dieser Moment bewegt hat. Und man spürt, wie nah er den Tieren ist. In den vergangenen acht Jahren habe er sie fast täglich besucht, sagt er, er könne sich ihnen nähern, sie kennen seine Stimme, bis heute reagieren sie zutraulich auf das Motorengeräusch seines Jeeps. Kommen hin zu ihm.
Die beiden Rhinos haben sich seit der Attacke verändert. Unsicher seien sie, zögerlich, sagt de Jager, wie Babys. Früher habe der Bulle sehr machtbewusst über Lady gewacht. Jetzt ist er fast blind. Jetzt ist er es, der dem Weibchen durchs trockene Buschland hinterhertrottet.
Wilderer-Mafia und korrupte Polizisten
Die Wunden an den Köpfen der Tiere heilen nur langsam. Immer wieder quillt Blut aus dem nachwachsenden Gewebe. Hörner werden diese Rhinos nie wieder bilden. „Das Prinzip ist das Gleiche wie bei einem Fingernagel“, sagt de Jager. „Schneidet man ihn, wächst er nach. Reißt man ihn jedoch völlig aus dem Nagelbett heraus, wächst er nie wieder.“
Was er auch sagt: „Man darf nicht vergessen, dass das Menschen waren, die das gemacht haben.“ Der Mensch, die Bestie unter den Kreaturen. Ob er Nashörner abschlachtet, um obskure Heilsversprechen zu befriedigen, oder tierhöllenhafte Schweinemastbetriebe einrichtet, um Supermarktangebote zu ermöglichen. Und immer wird im Hintergrund das ganz große Geld verdient. Und immer, wenn irgendwo das große Geld verdient wird, weiß man nicht, wie viele Profiteure es gibt.
Im Krüger Nationalpark wurden Park-Ranger festgenommen, die mit Wilderern kooperiert haben sollen. Und zum Tatort in Fairy Glen schickte die örtliche Polizei den rangniedrigsten Polizisten. Es wurden weder Spuren aufgenommen, noch wurde die Belegschaft befragt. Am Ende ermittelte de Jager auf eigene Faust und verfolgte die vielen anonymen Hinweise, die ihn erreichten. Zwei Tatverdächtige, die er der Polizei vorführte, ließ die jedoch sofort wieder laufen. Derweil erhält de Jager selbst Morddrohungen.
Er vermutet eine Mafia hinter den Nashorn-Jägern. Unter den bis zu 200 Besuchern, die jeden Tag in seinen Wildpark kommen, könnten sich auch Wilderer eingeschlichen haben, um den Standort der Nashörner auszuspionieren. Auch einen größeren Brand zwei Tage vor der Attacke, oberhalb des Parks im Berg kann er sich inzwischen damit erklären. Während der Löscharbeiten wurde der Zugang zum Park weniger strikt als üblich kontrolliert, da könnte es ein Leichtes für die Täter gewesen sein, unbemerkt mit ihren Waffen in den Park zu gelangen.
Dass längst eine afrikanisch-asiatische Mafia das Geschäft mit dem Rhinohorn betreibt, ist eine verbreitete Ansicht.
Ende Januar diskutierten Mitglieder des südafrikanischen Parlamentsausschusses für Umwelt Strategien für den ungleichen Kampf der Behörden gegen die Wilderei. Es war eine öffentliche Anhörung, übertragen vom Parlamentsfernsehen, und sie dauerte den ganzen Tag.
„Die Wilderei gab es seit jeher“, sagte dort Joseph Okori von WWF Südafrika, „was sich geändert hat, ist der Ausmaß.“ Und damit auch die öffentliche Anteilnahme. Der WWF hat laut Okori fast 20 Prozent mehr an Spenden eingenommen.
Keine Maßnahmen gegen die Drahtzieher
Auch die offenbare Ohnmacht von Polizei und Justiz im Kampf gegen die Wilderer in Mafiadiensten wurde hitzig debattiert. Man fange immer nur die kleinen Fische, beklagte ein Oppositionspolitiker, statt der wichtigen Leute, der Drahtzieher, Hintermänner. „Warum dauern die Untersuchungen so lange?“, fragt er.
Ein anderer Redner kritisierte, dass es überhaupt zu wenig Festnahmen wegen Wilderei gebe, dass zu selten verurteilt, dass zu oft Bewährung gewährt werde. Leuten, die sofort in ihrem verbotenen, aber einträglichen Gewerbe weitermachen würden. Warum ist das so?
Private Landeigentümer diskutierten praktische Lösungen. Soll man die Nashörner vorbeugend selbst und dann sachgerecht enthornen? Oder die Tiere gleich ganz abschaffen? Aber wenn das alle machen in dem Land, das sich als Hüter dieser Tiere sieht?
Andrew Muir, der Präsident der Südafrikanischen Stiftung zum Schutz von Wildtieren, sagte, dass 400 bis 500 Nashörner pro Jahr eines natürlichen Todes sterben. Deren Horn könnte man ja vielleicht verkaufen. Er forderte eine verbesserte Kennzeichnung der Tiere und ihres Horns, um die Wilderer besser verfolgen zu können.
Auch Pieter de Jager will weiter nach den Tätern suchen. Er nimmt die Attacke auf Lady und Higgins auf eine Art persönlich, die es verbietet, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das große weltweite Verbrechen hat auf seinem Grund und Boden zugeschlagen. Das will er so nicht durchgehen lassen.
Mit der gleichen Entschlossenheit kämpft er auch weiter für die Gesundung der beiden Nashörner. Higgins will er eine Augenoperation ermöglichen, damit das Tier wieder sehen kann. Er sammelt dafür über seine Facebookseite und bei den Parkbesuchern Geld.
Eine andere Hoffnung hat die Attacke dagegen nicht überlebt. Die Nashornkuh hat den Fötus verloren. Er hat sich unter dem Betäubungsschock zurückgebildet. Ein Schutzmechanismus der Natur.