1 Pandemie = 3 Hurrikans – Versicherer rätseln über die Kosten der Corona-Pandemie – Skepsis der Anleger lässt Aktien nahe des Crash-Tiefs verweilen

onvista · Uhr

Versicherer haben üblicherweise eine gute Hand für Zahlen: Mit ausgeklügelten Methoden werden Schadenrisiken modelliert, um die Kosten und die Prämienzahlungen der Kunden zu kalkulieren.

Doch die Corona-Krise lässt auch die Rechenkünstler ratlos: Die Branche ringt um eine Einschätzung, was sie die Pandemie kosten wird – von abgesagten Reisen und Veranstaltungen bis zu Ladenschließungen, Produktionsstopps und dem Verfall der Aktienkurse. Am Donnerstag wagte der Londoner Versicherungsmarkt Lloyd’s eine erste Prognose: Auf die Branche kommen demnach Verluste von bis zu 203 Milliarden Dollar zu – 107 Milliarden Versicherungsschäden plus Verluste aus den Kapitalanlagen.

„Die Umstände sind ziemlich beispiellos, aber der Betrag liegt in einer Größenordnung, die die Industrie bereits gesehen hat“, sagte George Quinn, Finanzchef der Zurich Insurance Group, zu Reuters. Erweisen sich Lloyd’s Schadenschätzungen als zutreffend, müsste die Branche infolge der Corona-Krise für eine ähnliche Summe geradestehen wie bei den Hurrikan-Serien von 2005 und 2017. Allerdings steht die Wirbelsturmsaison dieses Jahr noch bevor. Der Großteil der erwarteten Schäden kommt aus der Absage von Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen, aus Betriebsunterbrechungs-Policen und aus der Warenkreditversicherung, die Lieferanten gegen den Ausfall von Zahlungen ihrer Kunden absichert.

Milliardenzahlungen für schweizer Assekuranzen

Europas Branchenprimus Allianz kostet die Coronavirus-Pandemie eine Milliardensumme, wieder Münchener Konzern am Dienstag mitteilte. Zurich prognostizierte am Donnerstag Schadenkosten von rund 750 Millionen Dollar. Die beiden führenden Rückversicherer Münchener Rück und Swiss Re rechnen mit Milliarden- beziehungsweise hohen dreistelligen Millionenbeträgen.

Auch in der Schweiz drohen Schadenzahlungen in Milliardenhöhe, doch in Summe dürften die Kosten wohl nicht aus dem Ruder laufen. „Mich würde es überraschen, wenn es ein zweistelliger Milliardenbetrag werden würde“, sagte Florian Liebe, Versicherungsexperte beim Beratungsunternehmen EY in Zürich. Denn Schäden infolge der Pandemie stünden auch Entlastungen gegenüber, beispielsweise in der Autoversicherung: Weil weniger Fahrzeuge unterwegs seien, gebe es weniger Unfälle.

Die Branche dürfte auch für Kulanzregelungen tief in die Tasche greifen. Denn oft sind die üblichen Ausschlussklauseln für Pandemie-Schäden in Haft- und Unfallpolicen unklar formuliert. Und selbst wenn eine Deckung zweifelsfrei ausgeschlossen scheint, werden Vergleichslösungen angeboten – jüngst etwa von der Schweizer Helvetia für Gastronomiebetriebe -, um jahrelange Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.

Doch freiwillige Leistungen, wie sie zum Teil auch von der Politik eingefordert werden, sind eine Gratwanderung. Präzedenzfälle könnten eine Flut von Forderungen nach sich ziehen und die Kapitalreserven der Versicherer schlussendlich sprengen. Auch Regulierungsbehörden sehen Goodwill-Zahlungen dann oft kritisch. So warnte die Internationale Vereinigung der Versicherungsaufsichtsbehörden (IAIS) jüngst, dass erzwungene rückwirkende Zahlungen infolge der Virus-Krise letztlich die finanzielle Stabilität gefährden könnten.

Riesige Kapitalverluste sind zu verkraften

Härter als hohe Schadenzahlungen könnten die Branche ohnehin die Turbulenzen und Verwerfungen auf den Finanzmärkten treffen. Denn die Versicherer sitzen auf riesigen Anlageportfolios, und Wertverluste schwächen unmittelbar ihre Bilanzen. So schmolz das Kapitalpolster von Zurich praktisch auf das Minimum des Zielkorridors zusammen. Der Konzern will basierend auf dem unternehmensinternen Modell zwischen 100 und 120 Prozent des benötigten Kapitals vorhalten, Ende März waren es noch 101 Prozent. Finanzchef Quinn zufolge verfügt der Konzern aber weiterhin über eine starke Kapitalposition und hat noch Spielraum.

Grundsätzlich stellt sich die Branche auf den Standpunkt, dass die Versicherer überfordert wären, wenn es um die Absicherung des systemischen Risikos wie Pandemien gehe. Allianz, Swiss Re und andere große Versicherer aber auch die EU-Versicherungsbehörde EIOPA bringen deshalb öffentlich-private Partnerschaften nach dem Vorbild der Terror-Deckung ins Spiel. In den USA oder Deutschland übernehmen Regierungen über spezielle Vehikel Schäden, die die Deckungsfähigkeit der Branche übersteigen.

Versicherer-Aktien noch tief im Keller

Dass die Pandemie für die gesamte Branche teuer wird, scheint zumindest den Anlegern vollkommen klar zu sein. Die Akien der europäischen Versicherungsgesellschaften haben sich bisher weit schlechter von dem Crash Mitte März erholt, als der Gesamtmarkt. Der STXE 600 Insurance Index, der die größten Versicherungsunternehmen Europas abdeckt, befindet sich auf der Ebene von 3 Monaten immer noch knapp 40 Prozent im Minus und hat kaum etwas von den Verlusten aufgeholt, während die Hauptindizes der europäischen Industrienationen alle bereits wieder ein gutes Stück der Verluste ausmerzen konnten.

Bei den größten Einzelwerten sieht die Lage entsprechend aus. Die Allianz liegt 38 Prozent im Minus, ebenso wie die Münchener Rück, bei der Swiss Re sind es sogar 47 Prozent. Die AXA blickt auf Verluste von 40 Prozent, bei der Zurich Insurance Group sind es minus 35 Prozent.

Solange weiter unklar bleibt, wie lange die Pandemie noch wütet, lassen sich auch die Schäden nicht wirklich realistisch einkalkulieren. Deswegen dürfte der Sektor vorerst weiter stark unter Druck bleiben.

onvista-Redaktion/reuters

Titelfoto: ffikretow@hotmail.com / Shutterstock.com

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