Börsenweisheit: Die Flut hebt alle Boote
Die Politik des billigen Geldes ist noch lange nicht vorbei. Die Notenbanken fluten die Märkte weiter mit Liquidität. Die Zinsen sinken, Anleihekaufprogramme werden wieder aufgenommen. Die Party kann weitergehen. Scheinbar. Eine alte Börsenweisheit warnt jedoch: „Die Flut hebt alle Boote“, also auch diejenigen, die etwas marode sind oder vielleicht sogar richtige Löcher im Rumpf haben.
Experten können dieser Börsenweisheit einiges abgewinnen. „An dem Spruch ist auf jeden Fall etwas dran“, sagt beispielsweise Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Gerade in Zeiten, in denen sehr viel Kapital mangels lukrativer Alternativen auf den Aktienmarkt ströme, entstehe eine Sogwirkung und eine positive Stimmung, die den ganzen Markt erfasse. „Da steigen dann auch schon mal die Kurse von Unternehmen, die nicht so gut dastehen“, warnt der Börsenexperte. „Auf der anderen Seite sollte man aber nie vergessen, dass eben erst bei Ebbe zu sehen ist, wer nackt baden gegangen ist.“ Marcel Müller von HQ Trust, dem Multi Family Office der Familie Harald Quandt, stimmt dieser Börsenweisheit hingegen nur bedingt zu. „Die Flut mag kurzfristig einen Großteil der Boote mitsteigen lassen, doch Boote mit Löchern im Rumpf werden irgendwann auch in der Flut sinken“, sagt der Leiter des Portfoliomanagements.
Ganz ungefährlich ist diese Gemengelage also nicht. „Die Kombination aus viel Geld und niedrigen Zinsen führt in der Regel zu einer erhöhten Risikobereitschaft bei den Investoren“, sagt Tüngler. „So steigt auf der Suche nach Rendite gerade bei professionellen Marktteilnehmer nicht nur der Aktienanteil in den Portfolios, sondern auch der Anteil deutlich riskanterer Finanzinstrumente.“ Die Finanzkrise habe aber überdeutlich gezeigt, wie groß die Gefahr werden könne, wenn Risiken entweder falsch bewertet oder gänzlich außer Acht gelassen würden. Zwar wurde im Bereich der Regulation einiges verbessert, etwa wenn es um die Eigenkapitaldecke bei Banken geht oder die Möglichkeit, riskante Geschäfte einfach aus der Bilanz auszulagern. „Trotzdem stehen gerade in Europa nach wie vor etliche Banken auf einem recht dünnen Eis“, warnt Tüngler. „Sollte hier auf der verzweifelten Suche nach Rendite das Risiko wieder zu hoch gefahren werden, droht manchem Institut der Untergang oder erneut eine staatliche Rettung.“ Beides hätte fatale Auswirkungen.
In der Historie gab es keine vergleichbare Geldpolitik
Aktuell werden solche Warnungen von vielen Marktteilnehmern überhört oder doch zumindest ignoriert. Vom billigen Geld scheinen alle Anlageklassen zu profitieren. „Doch letztendlich sind nur die Löcher in den Booten provisorisch geflickt worden“, warnt Müller. „Und diese gestopften Löcher werden in rauer See wieder aufbrechen. Die Frage ist, gibt es dann noch genug Flickmaterial für die Reparatur?“ Die Antwort auf diese Frage wisse niemand, da es in der Historie keine vergleichbaren Maßnahmen der Geldpolitik gegeben hätte. „Theoretisch kann die Zentralbank unendlich viel Verbandsmaterial zur Verfügung stellen“, ergänzt er. „Aber Theorie und Praxis sind bekanntlich zwei verschiedene Paar Schuhe.“
Dass die Notenbanken von ihrer Politik des billigen Geldes zeitnah wieder abrücken, erwarten die Experten nicht. Zwar hatte die amerikanische Fed zwischenzeitlich die Zinswende eingeleitet, ist aber aufgrund des Rückgangs der konjunkturellen Dynamik in den USA nun ebenfalls wieder zu Zinssenkungen übergegangen. Dadurch dürften die Zinsen an den Anleihemärkten wieder verstärkt unter Druck geraten. In Europa sieht es nicht anders aus. „Die Europäische Zentralbank, die ihre Nullzinspolitik ja lange mit den Folgen der Finanzkrise begründete, dürfte jetzt, wo noch eine drohende Rezession hinzukommt, kaum den Spielraum für eine degressivere Geldpolitik haben“, sagt Tüngler.
Ein Konjunkturprogramm für die Aktienmärkte
Auch Müller erwartet, dass die Notenbanken voraussichtlich weiterhin eine expansive Geldpolitik betreiben werden, abhängig von der Inflations- und Konjunkturentwicklung. „Klar ist aber, daß die Politik der Notenbanken ein Konjunkturprogramm für die Aktienmärkte ist“, ist Christoph Bruns, Mit-Inhaber der Fondsgesellschaft Loys, überzeugt. „Daher ist es verwunderlich, daß die Notenbank nicht gleich Aktien kauft, wie das in der Schweiz und Japan ja in großem Umfang der Fall ist.“ Anleger müssen sich im Nullzinsumfeld entsprechend positionieren. „Mittlerweile dürfte es auch dem letzten Investor dämmern, daß mit Zinsanlagen kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist“, sagt Bruns. „Jetzt gilt es, die Realitäten anzuerkennen und nahezu das gesamte Geldvermögen in Aktien arbeiten zu lassen.“ Der Fondsmanager ist überzeugter Aktionär und macht sich seit Jahren für die deutsche Aktienkultur stark.
Doch Aktien sind nicht die einigen Boote, die die Flut hebt. „Im Prinzip gibt es kaum eine Anlageklasse die nicht von der Zentralbankpolitik profitiert“, sagt Müller. „Die Zinsen kennen seit Jahren nur einen Weg, und zwar nach unten.“ Anleihen haben dadurch enorme Kursgewinne erzielt. Von den sinkenden Zinsen wiederum profitieren die Immobilienpreise. „Aufgrund des niedrigen Zinsniveau werden Aktien in der relativen Betrachtung attraktiver und profitieren ebenfalls“, so der Experte. „Und last but not least, profitiert der Goldpreis von sinkenden Realzinsen.“ Langfristig spricht alles für reale Vermögenswerte wie Aktien, Private Equity sowie Immobilien und gegen nominale Anlageklassen wie Anleihen, ist der Experte von HQ Trust überzeugt. „Allerdings ist es durchaus denkbar, dass Anleihen ihre Hausse weiter fortsetzen, insbesondere bei erhöhter Unsicherheit über die konjunkturelle Entwicklung und sinkender Inflationserwartungen.“
Fondsmanager Bruns ist überzeugt: „Die Aktienanlage ist heute völlig alternativlos und die Anleger sollten diesem Umstand alsbald Rechnung tragen.“ Allerdings sollten sie – getreu der alten Börsenweisheit darauf achten – dass sie keine Boote mit Löchern im Rumpf erwischen. Denn auf jede Flut folgt unweigerlich irgendwann eine Ebbe.
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Autorin: Jessica Schwarzer