Ölpreisverfall weckt Angst vor Deflation

Holger Scholze · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Die Lebenshaltungskosten im Euro-Raum fallen tatsächlich

Die Preise in der Euro-Zone sind erstmals seit der besonders dramatischen Phase der globalen Wirtschaftskrise im Jahr 2009 wieder gefallen. Sie sanken im Dezember zum Vorjahr um 0,2 Prozent. Entscheidenden Einfluss hierauf hatten die deutlich gesunkenen Ölpreise. Wir Verbraucher freuen uns zwar darüber, weil wir an den Zapfsäulen der Tankstellen erleichtert aufatmen können, die Währungshüter der Europäischen Zentralbank dürften dabei aber auch zunehmend Sorgen bekommen.

Sollte es nämlich zu einem Preisverfall auf breiter Front kommen, müssten wir von „Deflation“ sprechen. Diese soll aber unter allen Umständen verhindert werden. Denn in solch einem Szenario konsumieren Verbraucher weniger, da sie erwarten, die Produkte bald noch billiger erwerben zu können. Die Margen der Unternehmen sinken und damit verdienen sie weniger. Der Anreiz für Investitionen lässt deutlich nach. Später werden die Firmen unprofitabel und schreiben Verluste, was auch zu Entlassungen von Mitarbeitern führt. Diese Menschen werden sich dann auch kaum noch etwas leisten können... Eine Abwärtsspirale entsteht, die nur sehr schwer zu stoppen ist. EZB wird mit starken Maßnahmen erneut gegensteuern
Die Wahrscheinlichkeit ist enorm gestiegen, dass die Europäische Zentralbank bereits auf ihrer Sitzung am 22. Januar die Geldpolitik nochmals lockern werde. Zumal auch EZB-Präsident Mario Draghi die Lage offenbar sehr ernst nimmt. Er betonte vor einigen Tagen erneut, dass die Zentralbank dem Risiko einer Deflation entgegenwirken müsse und deshalb entsprechende Maßnahmen vorbereite. Dabei sind weitere unkonventionelle Vorgehensweisen größeren Ausmaßes denkbar.

Ich rechne mit einer Ausweitung des bisherigen Kaufvolumens von Pfandbriefen und Kreditverbriefungen. Darüber hinaus deutet vieles auf einen massenhaften Ankauf von Staatsanleihen hin. Im Jargon der Börsianer heißt dies Quantitative Easing (QE). Möglicherweise könnte die EZB dadurch einen Anreiz schaffen, dass Geschäftsbanken ihre Papiere abstoßen und im Gegenzug mehr Geld zur Kreditvergabe verwenden. Die Notenbanker haben aber auch gerade in den vergangenen Jahren immer wieder ihre Kreativität bewiesen. Auf Überraschungen sollten wir also gefasst sein. Gerüchten zufolge sollen wohl nach und nach mindestens eine Billion Euro in das Finanzsystem gepumpt werden - das sind in Worten eintausend Milliarden!
Die Fed als Vorbild?
In den USA hat die Notenbank mit drei gigantischen Wertpapierankaufprogrammen die Wirtschaft im Zuge der Finanzkrise unterstützt. Deshalb kommt sie nun auch immer besser in Schwung. Kritiker sehen im Euro-Raum aber die Grenze zur verbotenen Staatsfinanzierung verwischt. So warnt auch Bundesbank-Chef Jens Weidmann davor, die Maßnahmen aus den USA auf die Europäische Währungsunion zu übertragen. Andere Ökonomen sind ebenfalls skeptisch, dass die Wirtschaft hier genauso angekurbelt werden könne wie in Amerika. Allerdings steht die EZB enorm unter Druck, da sie offiziell eine Inflationsrate von knapp zwei Prozent anpeilt. Weil unsere Währungshüter dieses Ziel schon länger verfehlen, könnte ihre Glaubwürdigkeit in Gefahr geraten. Ölpreissturz generiert Sieger und Verlierer
Kommen wir noch einmal auf den aktuellen Hauptgrund für die fallenden Preise in der Euro-Zone zurück. Wegen eines weltweiten Überangebots bei gleichzeitig schwacher Nachfrage hat sich der Preis für Rohöl innerhalb eines halben Jahres um mehr als die Hälfte bis auf rund fünfzig US-Dollar verbilligt. Die richtungsweisenden Futures der Ölsorten WTI und Brent notieren damit auf dem niedrigsten Stand seit sechs Jahren.

Eine Entspannung der Lage an den Ölmärkten ist nicht in Sicht. Der Internationalen Energieagentur zufolge werde sich das Überangebot in der ersten Jahreshälfte 2015 auf zwei Millionen Barrel täglich vergrößern. Gleichzeitig senkten die Experten ihre Prognose für das Nachfragewachstum um 230.000 auf 900.000 Barrel pro Tag. Leidtragende Länder
Zu den Leidtragenden zählen natürlich vor allem Förderländer, deren Haupteinnahmequelle durch den Export des „schwarzen Goldes“ sprudelt. Besonders hart trifft es Russland, dessen Wirtschaft außerdem unter den Sanktionen des Westens wegen der Ukraine-Krise leidet. Aber auch Nigeria ist stark betroffen. Beide Länder benötigen wohl Ölpreise von mehr als einhundert US-Dollar, um ihre Staatshaushalte auszugleichen. Ähnliches gilt für Venezuela, dessen Deviseneinnahmen zu 96 Prozent aus dem Rohstoff-Export stammen.

Saudi-Arabien und Kuwait können Rohöl dagegen relativ günstig fördern. Deshalb verzeichnen sie immer noch Gewinne. Zudem könnten die Regierungen dieser beiden Länder eventuelle Einnahme-Ausfälle mit ihren dicken Finanzpolstern leicht abfedern. Leidende Unternehmen
Natürlich leiden auch Ölkonzerne wie ExxonMobil oder BP unter dem Ölpreis-Verfall. Die im europäischen Branchenindex gelisteten Ölwerte haben in den vergangenen sechs Monaten insgesamt mehr als 200 Milliarden US-Dollar an Börsenwert verloren. Das entspricht etwa der jährlichen Wirtschaftsleistung Portugals.

In den USA rücken vor allem die Firmen ins Rampenlicht, welche mit Hilfe des technisch aufwendigen und teuren „Fracking“ Erdöl aus Schiefergestein herauslösen. Denn diese sind gegen einen fallenden Ölpreis nicht abgesichert. Die Kurse von Continental Resources, Whiting Petroleum und Apache sind innerhalb von drei Monaten um 30 bis 60 Prozent eingebrochen. Indikator für maue Weltkonjunktur aber auch Stimulus für Aufschwung
Nun wird der Abwärtstrend der Ölpreise von vielen Marktteilnehmern als Indikator für eine schwache Weltkonjunktur gewertet. Auch deshalb war die Nervosität an den Aktienmärkten zu Beginn des neuen Jahres so groß geworden. Aber denken wir hier mal einen Schritt weiter. Denn fallende Energiekosten sind letztlich wie eine weltweite Steuersenkung zu bewerten. Das hier eingesparte Geld könnte in vielen Bereichen anderweitig investiert werden. Dies dürfte unzählige Volkswirtschaften in den kommenden Monaten stützen oder sogar beflügeln. Direkte Profiteure
Gerade Staaten, die auf Energie-Importe angewiesen sind, profitieren natürlich besonders stark vom billigeren Öl. Für sie wirkt der Preisrückgang wie ein Konjunkturprogramm. Zu dieser Gruppe zählen beispielsweise die Türkei und Japan. Nutznießer sind selbstverständlich auch die Fluggesellschaften, für die Treibstoff ein großer Kostenfaktor ist. Aber auch Konsumwerte dürften haussieren, weil die Verbraucher immer weniger Geld für Benzin und Heizöl ausgeben müssen. DAX wird deutlich steigen
Allein wegen des expansiven geldpolitischen Kurses der EZB und aufgrund der stimulierenden Wirkung der sinkenden Ölpreise rechne ich in den kommenden Monaten mit deutlich steigenden Kursen am deutschen Aktienmarkt. Allerdings müssen wir dabei natürlich immer auch mit vorübergehenden Rückschlägen rechnen. Die durch den VDAX gemessene Schwankungsbreite ist bereits zu Beginn des Jahres wieder auf 25 Prozentpunkte gestiegen. Ich erwarte sie auch in den kommenden Wochen zwischen 20 und 25 Prozentpunkten. Es sind also starke Nerven gefragt. Wer besonnen agiert, hat aber ein gutes Aktienjahr vor sich.
Ihr Holger Scholze

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