Union, SPD und Grüne wollen als Lehre aus Pandemie "mehr EU"

Reuters · Uhr

- von Andreas Rinke und Alexander Ratz

Berlin (Reuters) - Kanzlerin Angela Merkel und ihre möglichen Nachfolger von Union, Grünen und SPD haben vor dem EU-Gipfel eine deutliche Stärkung der Europäischen Union und deren Kompetenzen gefordert.

"Deutschland unterstützt die schrittweise Schaffung einer Gesundheitsunion", sagte Merkel am Donnerstag in einer Regierungserklärung und befürwortete damit mehr Kompetenzen der EU auch in der Gesundheitspolitik. Als Lehre aus der Corona-Krise müssten aber auch die EU-weiten Einschränkungen der Freizügigkeit zur Bekämpfung der Pandemie besser koordiniert werden. Zugleich forderte Merkel mehr Geld für die Türkei zur Versorgung syrischer Flüchtlinge sowie direkte Gespräche der EU mit Russlands Präsident Wladimir Putin.

Am Donnerstag beginnt in Brüssel ein zweitägiger EU-Gipfel, auf dem es neben dem Kampf gegen die Ausbreitung der Delta-Virus-Variante auch um das Verhältnis zu Russland und der Türkei sowie den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Pandemie gehen soll. Die Parteien nutzten die Bundestags-Aussprache nach der Regierungserklärung aber vor allem zum Schlagabtausch über europapolitische Positionen. Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet sprach das erste Mal seit 23 Jahren wieder im Bundestag und bezeichnete die zeitweisen Grenzschließung während der Pandemie als falschen "nationalstaatlichen Reflex". Annalena Baerbock als Grünen-Kanzlerkandidatin warf vor allem der Union vor, eine stärkere europäische Integration und eine entschiedenere Klimaschutzpolitik verhindert zu haben. Es sei richtig, dass die Europäische Union enger zusammenrücke, das gelte auch für die Finanzpolitik, betonte SPD-Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz.

MERKEL WILL ENGERE KONTAKTE ZU RUSSLAND UND TÜRKEI

Merkel betonte, dass auf dem EU-Gipfel über die Lehren aus der Pandemie gesprochen werden solle, auch wenn dabei noch keine Entscheidungen fallen. Zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte sie aber eine neue Initiative gestartet, damit die EU künftig mit Russland wieder direkt ins Gespräch kommt und Beziehungen nicht nur bilateral verlaufen. "Es reicht nicht aus, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten redet", sagte sie im Bundestag. "Die Europäische Union muss hier auch Gesprächsformate schaffen." Merkel hatte in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft bis Ende 2020 auch einen EU-China-Gipfel mit allen 27 EU-Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen, der dann aber pandemiebedingt abgesagt werden musste.

Den stärkeren nötigen Zusammenhalt der 27 EU-Staaten angesichts des Aufstiegs Chinas und einer Bedrohung durch Russland betonten auch andere Redner. Die EU müsse eine gemeinsame Antwort bei dem Umgang mit Ländern wie Russland oder China haben, mahnten sowohl Merkel als auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet. Es sei wichtig, dass sich in den vergangenen Wochen auch die G7-Staaten und die Nato-Länder geschlossen gegenüber Russland und China gezeigt hätten. Die wichtigsten westlichen Industrieländer seien "überzeugt, mit unseren gemeinsamen Werten und Interessen vielen Ländern auf der Welt ein besseres Kooperationsangebot als China machen zu können", sagte Merkel. Laschet plädierte dafür, in der EU-Außen- und Sicherheitspolitik künftig auf die Einstimmigkeit zu verzichten. Der AfD warfen mehrere Redner vor, mit ihrem nationalen Ansatz und der EU-Kritik deutschen Interessen zu schaden.

Baerbock und Scholz betonten, dass die EU aber auch ihre Werte nach innen und außen verteidigen müsse. Sie kritisierten Ungarn für dessen umstrittenes Gesetz gegen sogenannte Werbung für Homosexualität. Kanzlerin Merkel unterzeichnete zusammen mit 15 anderen Regierungschefs einen Brief an die EU-Spitzen, in dem ein Vorgehen gegen das ungarische Gesetz gefordert wird. Das Verhalten von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban auf dem EU-Gipfel gilt nach Angaben von EU-Diplomaten derzeit als offen. Orban könnte notwendige Beschlüsse blockieren.

Weiterer Streitpunkt auf dem EU-Gipfel wird der Umgang mit der Türkei sein. Merkel unterstützte die EU-Kommission trotz aller Differenzen mit Ankara darin, das Zollabkommen mit der Türkei zu modernisieren und einen neuen Migrationspakt mit dem Land abzuschließen. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, weitere 3,5 Milliarden Euro für die Versorgung etwa syrischer Flüchtlingen bis 2024 zur Verfügung zu stellen. Auch Libanon und Jordanien, die ebenfalls hunderttausende syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, sollen finanzielle Unterstützung erhalten. Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock kritisierte, die EU lasse es zu, dass Menschen etwa an der kroatischen Grenze abgewiesen würden.

Differenzen wurden in der Europa-Debatte etwa zwischen Union, SPD, Grünen und der FDP sichtbar. So verteidigten sowohl Vizekanzler Scholz als auch Laschet und Baerbock, dass die EU-Kommission für die Wiederaufbauhilfen in Höhe von 750 Milliarden Euro erstmals eigene Kredite aufnehmen kann. Dagegen warnte FDP-Fraktionschef Christian Lindner vor einer Schuldenunion. Die neue Bundesregierung müsse sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehe: einer eher südeuropäisch geprägten lockeren Schuldenpolitik oder einer soliden Finanzpolitik. Laschet wies die Kritik an den südlichen EU-Staaten dagegen zurück. Wie Scholz betonte er, dass die EU keine Kälte ausstrahlen dürfe, sondern Solidarität zeigen müsse. Deutschland gehe es nur gut, wenn es auch den anderen EU-Staaten gut gehe, betonten beide.

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