Das Interview mit Bundeskanzlerin Merkel im Wortlaut

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- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - In ihrem wohl letzten Interview als Bundeskanzlerin hat Angela Merkel mit der Nachrichtenagentur Reuters über die Bedeutung von Innovation und Forschung für den Erhalt des Wohlstands in Deutschland und Europa gesprochen.

Themen sind zudem die Zusammenarbeit mit China, der Ausstieg aus der Atomenergie, die Jagd nach einer europäischen Chip-Produktion - und ihr privater Umgang mit Technik. Hier das Interview im Wortlaut:

Reuters: Sie sind jetzt 16 Jahre Kanzlerin gewesen. Steht Deutschland am Ende Ihrer Amtszeit besser da, was die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit angeht?

Merkel: Was die Rahmenbedingungen für Forschung in Deutschland betrifft, würde ich das klar bejahen. Noch bevor ich 2005 Bundeskanzlerin wurde, hatten die EU-Staats- und Regierungschefs in Lissabon beschlossen, dass Europa der wettbewerbsfähigste Kontinent werden soll und dass jeder Mitgliedstaat 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren soll. Der wettbewerbsfähigste Kontinent sind wir heute sicher nicht. Aber Deutschland gehört im Innovations-Ranking immer noch in die Spitzengruppe.

Reuters: Aber hat das etwas mit Ihnen zu tun?

Merkel: Auf das Drei-Prozent-Ziel habe ich sehr zielstrebig hingearbeitet. Das hat viele Jahre gedauert; 2005 lagen wir noch bei 2,47 Prozent. 2019 waren es schon 3,17 Prozent. Die Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung konnten in meiner Amtszeit mehr als verdoppelt werden, auf beinahe 19 Milliarden Euro. Das alles hat große Verlässlichkeit in die Forschungslandschaft gebracht. Wissenschaftler sind aus dem Ausland zurückgekehrt. Zusätzlich haben wir die Pakte für Forschung und Innovation für die außeruniversitäre Forschung bis 2030 beschlossen. Wir haben sehr viel für die Hochschulen getan, auch mit dem Hochschulpakt. Für die ist es jetzt eben nicht mehr eine jährliche Zitterpartie, sondern da ist Verlässlichkeit. Und was die Forschung selbst anbelangt, sind wir in einigen Bereichen herausragend und können wirklich von Exzellenz sprechen.

Reuters: Wo denn beispielsweise?

Merkel: Wir haben zum Beispiel herausragende Max-Planck-Institute für Quantenphysik und für Klimaforschung. Wir sind in der Physik und Chemie gut. Aber es gibt auch Bereiche wie die Biowissenschaften, in denen wir auch wegen starker regulatorischer Anforderungen zurückgefallen sind. Schwieriger wird es, wenn es um die Anwendungen geht. Auch da gibt es hervorragende Beispiele, ich nenne die BASF, die Laser-, Nano- oder Robotik-Forschung. Aufholen müssen wir sicherlich bei der Künstlichen Intelligenz, wo die internationale Konkurrenz riesig ist. Aber insgesamt kann ich mit Überzeugung sagen, dass es in meiner Amtszeit besser geworden ist.

Reuters: Trotzdem haben Sie im Mai auf dem Forschungsgipfel sehr kritische Worte gefunden, haben viele Bremsen bei Innovationen beklagt...

Merkel: Das eine schließt das andere nicht aus. Insgesamt stehen wir ganz gut da, aber in der Pharmaforschung beispielsweise war Deutschland mal ein sehr viel stärkerer Pharma-Standort. Der wunderbare Erfolg des BioNtech-Impfstoffs und das große Potenzial der mRNA-Technologie geben jetzt natürlich wieder Hoffnung.

Ich dachte bei meiner kritischen Bemerkung vor allem an die Länder-Ethikräte, die Forschungsvorhaben begutachten müssen. 16 Ethikräte und 16 Datenschutzbeauftragte können bei länderübergreifenden Forschungsprojekten schon eine Hürde sein, die zumindest die Genehmigung von Forschungsvorhaben sehr langwierig macht.

Reuters: Aber Sie haben sogar bei einem neuen Instrument wie der Agentur für Sprunginnovation geklagt, dass man "sehr deutsch" sei – und gleich zwei Agenturen gründen musste – eine zivile und eine militärische.

Merkel: Stimmt. Die Agentur sollte freier Aufträge vergeben können. Und die Spaltung in einen zivilen und einen militärischen Teil ist natürlich nicht gerade eine Stärkung, aber wir müssen es eben so machen, wie es unter den gegebenen Bedingungen realistisch ist.

Reuters: Die realistische Bedingung heißt hier SPD?

Merkel: Realistisch heißt, dass es in einer Regierung immer einen Koalitionspartner geben kann, der auf eine solche Trennung pocht.

Reuters: Stehen wir nicht an einer Zeitenwende bei der internationalen Forschungszusammenarbeit? Sie selbst haben auf Ihren Reisen immer die Kooperation betont, haben oft Universitäten – auch in China – besucht. Aber zeigen heute autoritäre Staaten nicht, dass die alte Gewissheit tot ist, dass freie Gesellschaften besser forschen können? Muss man sich da nicht neu aufstellen?

Merkel: Ich glaube nach wie vor zutiefst an das hohe Gut der Freiheit der Wissenschaft und Forschung. Wir müssen allerdings am Beispiel Chinas sehen, dass auch ein autoritäres Einparteiensystem sehr gute Wissenschaft und eine leistungsfähige Industrie hervorbringt. Genau das konnte man im Kalten Krieg von der Sowjetunion ja in dieser Breite nicht behaupten. Das Problem heute liegt darin, dass ein Land wie China sehr langfristige Strategien entwickelt, während in einer Demokratie wie der unsrigen alle vier Jahre neue Regierungen mit neuen Koalitionsverträgen gebildet werden. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit für längere Zeiträume sind gerade im Wissenschaftssystem wichtig. Wir haben deshalb versucht, dies mit den erwähnten Pakten herzustellen, die bis 2030 laufen. So schaffen wir mehr Sicherheit für die Forschung - natürlich immer unter dem Vorbehalt, dass jeder Haushaltsgesetzgeber auch immer wieder neu zustimmt. Insgesamt jedoch bin ich davon überzeugt, dass auf lange Sicht die freiheitlichen Gesellschaften die besseren Voraussetzungen mitbringen, innovativ zu sein.

Reuters: Aber was sind denn die Folgen Ihrer Analyse - was muss sich ändern in der Zusammenarbeit etwa mit China? Es gibt diese Vorwürfe der Spionage bei chinesischen Studenten, Debatte über den Einfluss chinesischen Geldes an deutschen Universitäten.

Merkel: Vielleicht ist man am Anfang an manche Kooperation etwas zu unvoreingenommen herangegangen. Da wird heute mit Recht genauer hingeschaut. Wir haben mit China ja immer wieder den Schutz geistigen Eigentums und den Patentschutz diskutiert. Das ist und bleibt ein wichtiges Thema, sowohl mit Bezug auf chinesische Studentinnen und Studenten hierzulande als auch auf deutsche Unternehmen, die in China arbeiten. Dennoch: Ich stehe zu einer Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der EU mit China. Wir können voneinander lernen. Eine völlige Abkopplung hielte ich nicht für richtig, sie würde uns schaden.

Reuters: Gilt das auch für den Forschungsbereich?

Merkel: Ja, auch da sollte es keine Abkopplung geben. Chinesische Wissenschaftler sind schließlich auch Teil des internationalen Publikationssystems, auch sie müssen sich bewerten lassen.

Reuters: Aber wird Technologie nicht zur Bedrohung, wenn künftig autoritäre Regime führend sind? Es gibt Warnungen des früheren Pentagon-Software-Chefs, dass China bei der Künstlichen Intelligenz schon führend sei.

Merkel: Unser Wohlstand hängt von unserem Innovationspotenzial und unseren Innovationsleistungen ab. Wenn die westlichen Demokratien, also vorneweg die USA und die EU, in vielen Zukunftsbereichen nicht mehr führend wären, hätten wir tatsächlich große Probleme. Ein Problem sehe ich darin, dass wir dann bestimmte technologische Entwicklungen gar nicht mehr richtig einschätzen könnten. Neue Technologien wie KI sind in Demokratien auch immer wieder mit der Erarbeitung ethischer Maßstäbe verbunden. Schon deswegen wünsche ich mir, dass wir auf solchen Gebieten vorne sind. Zurzeit kann davon in Europa etwa bei den Quantencomputern oder der Künstlichen Intelligenz nicht die Rede sein. Da sind China und in vielen Bereichen auch die USA besser.

Reuters: Ist dies nicht auch ein Sicherheitsproblem? Künftig werden Sie nicht mehr vom US-Geheimdienst, sondern von den Chinesen abgehört?

Merkel: Dagegen kann man sich durchaus schützen. Die Grundsatzfrage, die wir beantworten müssen, ist ohnehin, welche kritische Infrastruktur wir schützen müssen. Wir haben ja mit dem Telekommunikationsgesetz die Möglichkeit geschaffen, bestimmte Produzenten nicht mehr zu zertifizieren. Dabei ist aber für mich immer wichtig, dass einzelne Firmen nicht von vorneherein ausgeschlossen werden dürfen. Wir brauchen ein offenes System, in dem jeder unter dem gleichen Maßstab begutachtet wird.

Reuters: Also eine Art Äqui-Misstrauen gegenüber China und den USA?

Merkel: Nein, sondern ein auf Fakten basierendes Misstrauen gegenüber technischen Entwicklungen. Für die Bewertung in diesem Bereich haben wir etwa das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).

Reuters: Muss man nicht im Bereich der Dual-Use-Güter nachsteuern? Jetzt wurde bekannt, dass chinesische Militärboote mit deutschen Motoren angetrieben werden.

Merkel: Das ist ja kein neues Problem. Wir haben immer wieder erlebt, dass Dual-Use-Güter neu klassifiziert wurden, weil man plötzlich eine Anwendung sah, die es bis dahin nicht gab. Die Grundfrage, die sich in der Zusammenarbeit mit China aber auch den USA stellt, ist, wie weit ein Staat im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit auf private Daten zugreifen kann und was das für die internationale Zusammenarbeit bedeutet. Diese Frage muss man immer wieder neu stellen. Auf der anderen Seite bin ich dafür, dass wir auch mit China bei allen Unterschieden der Systeme Kooperationsmechanismen beibehalten. Im Zeitalter der Digitalisierung und des Internets der Dinge dürfen wir unseren Austausch nicht nur auf Rohstoffe beschränken.

Reuters: Gerade wegen dieser Fragen gibt es die Forderung nach größerer europäischer Autonomie oder Souveränität. Sie selbst haben eine verstärkte EU-Kooperation etwa bei Batterien oder Chips angestoßen. Wo müssen die Regierungen noch mehr tun?

Merkel: Wir müssen sicher beim Quanten-Computing unsere Fähigkeiten in Europa bündeln, weil das die Rechner der Zukunft sind und die Quantentechnologie sehr viele Anwendungen haben wird – etwa im Sicherheitsbereich. Da brauchen wir eigene Fähigkeiten. Wir müssen etwas tun im Medizinbereich und beim Cloud-Computing. Das finde ich besonders wichtig, weil wir in Europa eine ganz eigene Kultur des Umgangs mit Daten haben. Die Datenschutzgrundverordnung beschreibt bereits eine europäische Autonomie oder Souveränität. Dementsprechend müssen wir Maßstäbe setzen. Wir müssen aber auch immer wieder eine gute Balance finden zwischen Datenschutz und dem Potenzial, aus dem Rohstoff Daten neue Produkte zu entwickeln. Unsere Regeln dürfen nicht so abschreckend sein, dass solche Produkte gar nicht in Europa entwickelt werden.

Reuters: Sind Sie manchmal enttäuscht über fehlende strategische Weitsicht von Unternehmen, mit denen Sie in den letzten Jahren Kontakt hatten? Es wirkte oft so, als ob Sie glaubten, der Staat müsse Unternehmen einen Anstoß geben, sich neu aufzustellen.

Merkel: Es hat mich schon erstaunt, dass manche Unternehmen in Deutschland die Digitalisierung nicht so vorangetrieben haben wie die Konkurrenz in den USA. Hierzulande versucht der Wirtschaftsminister mit Gaja X beim Cloud Computing ein europäisches Angebot zu schaffen. Auch bei der KI oder der Elektromobilität brauchten gerade mittelständische Unternehmen einen Anschub. Der Staat ist heute viel stärker involviert als früher. Er muss auch Rahmenbedingungen schaffen, damit viele neue Startups entstehen. Aber auf Dauer kann es nicht der Staat sein, der die Entwicklung vorantreibt.

Reuters: Sind Sie enttäuscht, dass mit staatlicher Hilfe Unternehmen wie Secusmart oder Kuka hochgepäppelt worden, die dann ins Ausland verkauft wurden?

Merkel: Wir sollten uns nicht total abschotten und sagen, dass jedes Startup auch in Deutschland bleiben muss, aber es wäre natürlich gut, wenn man eine ausgewogene Bilanz hätte – wenn also auch deutsche Firmen mehr US-Startups kaufen würden. Wir haben viel getan, um Startups gerade in der Wachstumsphase zu helfen. Dennoch ist die Investorenkultur in Deutschland nicht so ausgeprägt. BioNTech ist eine sehr positive Ausnahme. Das, wovon BioNTech profitierte hat, brauchen wir noch sehr viel mehr, nämlich strategische Investoren in Zukunftstechnologien.

Reuters: Warum ist es in Ihrer Amtszeit nicht gelungen, etwa das Kapital der Rentenkassen oder der Lebensversicherungen stärker für Innovationen zu nutzen?

Merkel: Wir haben in Deutschland ein sehr hohes Sicherheitsempfinden und wollen, dass die Risiken gleichmäßig verteilt werden. Mit einer ungleichen Verteilung kann man sehr gute Renditen erzielen, aber man hat eben auch ein sehr hohes Ausfallrisiko. In der Abwägung haben wir uns immer für einen sicheren Angang entschieden.

Reuters: Die Frage ist: War das richtig?

Merkel: Man kann immer wieder darüber diskutieren, etwas risikofreudiger zu werden, aber als grundsätzlich falsch würde ich das nicht bezeichnen; wie gesagt, wir haben ein anderes Sicherheitsempfinden in Deutschland als in anderen Ländern. Im übrigen: Mit dem umlagefinanzierten Rentensystem haben wir ja ein ganz anderes System als etwa die US-Pensionsfonds, wo fast die gesamte Altersversorgung über privates Kapital läuft.

Reuters: Ihre Amtszeit steht ja auch dafür, aus Technologien auszusteigen – wie etwa der Atomkraft. Ist das mit Blick auf die Klimadebatte nicht doch ein Fehler gewesen, zumindest nicht etwas länger auf Atomkraft als Übergangstechnologie zu setzen?

Merkel: Nein. Es stimmt natürlich, dass wir jetzt die sehr ambitionierte und herausfordernde Aufgabe haben, mit dem Ausstieg aus Kohle und Kernenergie die Energiewende zu schaffen. Aber es stimmt auch, dass es sich für unser Land auch auszahlen wird, wenn wir es richtig machen. Im Übrigen: Frankreich hat anders als wir Staatsbeteiligungen an Energieunternehmen. Die privaten Investitionen in Kernkraftwerke sind ja weltweit durchaus begrenzt. Bei den im Bau befindlichen Reaktoren gibt es häufig deutliche Kostensteigerungen und starke zeitliche Verzögerungen. Oder nehmen Sie Länder wie Dänemark oder Österreich, sie gehen den gleichen Weg wie wir. Die dauerhafte Lagerung der radioaktiven Abfälle ist ja weiterhin nicht geklärt. Und die Kilowattstunden-Preise für die Kernenergie werden bestimmt nicht geringer sein als die Kilowattstunde-Preise für Offshore-Windenergie.

Reuters: Aber hat Deutschland nicht gerade seinen Widerstand aufgegeben, dass Atomenergie auf EU-Ebene bei der Taxonomie als nachhaltig eingestuft wird?

Merkel: Nein, Deutschland hat seinen Widerstand nicht aufgegeben, aber das Verfahren ist wie folgt: Die EU-Kommission legt einen sogenannten delegierten Rechtsakt auf der Grundlage der Taxonomie-Verordnung vor. Dieses Vorgehen bedeutet, dass dieser Rechtsakt dann nur abgelehnt werden kann, wenn 20 Mitgliedstaaten bereit sind, Nein zu sagen. Und das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall.

Reuters: Deutschland kann diese Einstufung also nicht mehr verhindern?

Merkel: Das Verfahren an sich kann nur schwer wieder aufgehalten werden, wenn die EU-Kommission etwas vorlegt. Aber zum einen: Wir sind parteiübergreifend in Deutschland der Meinung, dass die Kernenergie nicht als gleichrangig sauber mit Wind und Sonnenenergie eingestuft werden sollte. Sie ist zum Beispiel für Frankreich eine Brückentechnologie. Wir sagen, dass für uns Erdgas als Brückentechnologie klassifiziert werden muss. Und zum anderen: Die Kommission konsultiert natürlich noch und ist klug genug, zu wissen, dass wir am Ende eine Gesamtstrategie zu "Fit for 55" brauchen. Da wird man nicht durch verschiedene Rechtsetzungen ein ungutes Beratungsklima erzeugen wollen.

Reuters: Gab es bei Ihnen eigentlich einen Sputnik-Moment – einen Moment, an dem Sie eine technologische Entwicklung in China oder den USA aufgeschreckt hat?

Merkel: Nein, aber ich war schon ein bisschen erschrocken, als mir klar wurde, dass wir im Bereich des Quantencomputers zwar bei der Forschung mit an der Weltspitze liegen, es aber kein Industrieunternehmen in Deutschland gibt, das so einen Quantencomputer bauen möchte. Es ist für den Staat sehr schwer, ein Konsortium zusammenzubringen und jemanden zu finden, der das Kapital hat und investiert. Solche Milliardenprojekte gehen wegen des nötigen Kapitals nur noch gesamteuropäisch.

Reuters: Wo soll das Kapital denn herkommen?

Merkel: Der Staat wird hier eine große Rolle spielen müssen. Südkorea und Taiwan zeigen, dass ohne staatliche Subventionen zum Beispiel eine wettbewerbsfähige Chip-Produktion im 3- oder 2-Nanometer-Bereich im Grunde nicht mehr möglich ist. Das heißt, Regierungen müssen erhebliches Geld investieren. Der amerikanische Präsident Joe Biden tut dies nun über ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Wir Europäer müssen aber auch in der Lage sein, bei uns solche Chips zu produzieren. Wenn Sie die Beträge für die Förderung des Quanten-Computings, des Cloud-Computings, der Chip-Produktion, der Batteriezell-Forschung oder der Elektromobilität zusammenrechnen, addiert sich dies zu riesigen Investitionssummen. Das kann kein einzelner Mitgliedstaat der EU alleine aufbringen, das geht nur zusammen. Und wenn wir nicht bestimmte Förderinstrumente zusätzlich zu den bisherigen EU-Beihilferegeln haben, können wir nicht an die Weltspitze vorstoßen.

Reuters: Ist es nicht ein Paradox, dass auch Deutschland immer Wettbewerbsstärke durch Innovation sucht – aber etwa beim Klimaschutz oder in der Pandemie ein Interesse haben muss, dass neue Technologien sich weltweit schnell verbreiten?

Merkel: Da besteht ein gewisses Spannungsverhältnis. Ich hatte mich gerade mit dem chinesischen Ministerpräsidenten darüber unterhalten, ob es nicht besser wäre, wenn sein Land schon Kohlekraftwerke baue, dann wenigstens die modernsten. Es gibt ja kein Exportverbot, aber es gibt ein staatliches Finanzierungsverbot. Der Staat darf also keine Steuergelder dazu verwenden, solch einen Export zu ermöglichen.

Reuters: Wären Sie dafür, dass deutsche Firmen dort moderne Kohlekraftwerke bauen?

Merkel: Die große Frage ist: Wie schaffen wir die Energiewende bis zur Klimaneutralität weltweit? Was passiert, wenn jetzt alle nur noch Gaskraftwerke bauen? Kann es sein, dass der Gaspreis dann stark steigt und die Verfügbarkeit gefährdet ist? Und wie schaffen wir den weltweiten Ausbau der erneuerbaren Energien? Das muss man klären. Und dafür braucht es globale Modelle, etwa über die Nachfrage.

Reuters: Wie ist eigentlich Ihr persönlicher Umgang mit Technik?  Lange Zeit gab es Fotos mit Ihnen und Ihrem alten Handy.

Merkel: Ich nutze natürlich Technik in vielfältiger Weise, aber ich bin sicher niemand, der immer die neueste Computer-Software kennt. Im Alltag bin ich umgeben von Vorgaben aus dem Kanzleramt, was ich nutzen darf und was nicht – auch beim Smartphone.

Reuters: Und wie sieht es zuhause aus? Sie könnten ja zum Beispiel einen smarten Kühlschrank haben, der Ihnen sagt, was fehlt.

Merkel: Ich freue mich schon, wenn ich meine Waschmaschine programmieren kann, damit sie erst in ein paar Stunden anspringt, aber darüber hinaus habe ich derzeit ehrlich gesagt weder die Zeit noch das Interesse, meine gesamte Wohnung fernzusteuern. Es kann sein, dass das Interesse kommt, wenn ich demnächst mehr Zeit habe.

Reuters: Spielen Sie eigentlich Computerspiele?

Merkel: Gar nicht.

Reuters: Wenn Sie Forscherin geblieben wären, was hätten Sie dann am liebsten erforscht? Oder was würden Sie jetzt erforschen? Wo es Ihre Neugier am größten?

Merkel: Ich komme ja aus der Quantenchemie und bin begeistert, wie sich dieses Wissenschaftsgebiet entwickelt hat. Heute kann man bestimmte chemische Reaktionen sowohl sehr präzise theoretisch berechnen als auch experimentell bis auf das Niveau der Atome darstellen. Dadurch ist es möglich, chemische Reaktionen sehr viel besser zu verstehen, und die Zusammenarbeit von Theoretikern und Experimentatoren ist viel intensiver geworden.

Reuters: Wollen Sie selbst nach dem Ende Ihrer Amtszeit etwas in dem Bereich Forschung/Innovation machen?

Merkel: Ich kann mir vorstellen, immer wieder auf den Zusammenhang zwischen unserem Wohlstand, Forschung und Innovation hinzuweisen - aber sicher werde ich wissenschaftlich nicht mehr aktiv. Dafür ist seit 1989 zu viel Zeit vergangen. Und mittlerweile hat sich mein Hauptinteresse auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge verlagert. Meine Entwicklung können Sie daran sehen, dass zu meinem 50. Geburtstag der Hirnforscher Professor Singer gesprochen hat, zum 60. Geburtstag dann Professor Osterhammel über vergleichende Geschichte im globalen Maßstab. Und dahin gehen meine Gedanken jetzt auch verstärkt. Mich beschäftigen mittlerweile Fragen wie diese: Wie kann man die geschichtliche Entwicklung verstehen, wie kann man sie global vergleichen? Wie hat sich China über 2000 Jahre entwickelt, wie Europa? Und viele mehr.

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