Reiserückkehrer sollen stärker kontrolliert werden - WHO warnt vor EM-Effekt
- von Andreas Rinke und Alexander Ratz und Nikolaj Skydsgaard
Berlin/Kopenhagen (Reuters) - Zu Beginn der Urlaubssaison zeigt die Bundesregierung verstärkte Bemühungen, um eine vierte Corona-Welle zu verhindern.
Angesichts der sich ausbreitenden Delta-Variante will sie mit vermehrten Kontrollen bei Reise-Rückkehrern, mehr Tests und Impfungen dafür sorgen, dass die aktuell niedrige Zahl der Positiv-Tests nicht erneut steigt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) trägt die Fußball-Europameisterschaft dazu bei, dass die Fallzahlen in Europa wieder zulegen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) warf dem europäischen Fußballverband Uefa vor, "absolut verantwortungslos" zu handeln.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) äußerte sich dennoch optimistisch, dass die Urlaubssaison mit verstärkter Reisetätigkeit anders als 2020 nicht wieder zum Infektionstreiber werde. Während im vorigen Jahr Ende des Sommers fast 50 Prozent der Personen mit einem Positiv-Test sich wahrscheinlich im Ausland infiziert hätten, liege der Anteil derzeit bei nur zwei Prozent - dies solle nach Möglichkeit auch so bleiben.
IN DEUTSCHLAND SINKEN ZAHLEN WEITER
In Deutschland geht die Zahl der Positiv-Tests laut Robert-Koch-Institut (RKI) weiterhin zurück. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt daher bei nur noch 5,1. Allerdings nimmt der Anteil der als ansteckender geltenden Delta-Variante weiter zu und liegt mittlerweile bei mehr als 50 Prozent. Laut Spahn wird er noch im Juli auf 70 oder 80 Prozent steigen. Genau dies ist paradoxerweise ein Hoffnungsschimmer für die Reisebranche und Länder wie Portugal und Großbritannien, die derzeit als Virus-Variantengebiete mit weitreichenden Reisebeschränkungen eingestuft werden. Denn wenn die Delta-Variante auch in Deutschland vorherrschend wird, fällt diese Einstufung weg, wie Spahn bestätigte. Er kündigte eine Überprüfung für die kommenden Tage an.
Anlass zum Optimismus gebe es, weil mittlerweile zwei Drittel der Erwachsenen bereits eine Erstimpfung bekommen hätten, sagte Spahn. Zudem gebe es anders als 2020 ausreichende kostenlose Testmöglichkeiten, die von allen etwa zwei Mal die Woche genutzt werden sollten. Ferner sei es den Gesundheitsämtern nun möglich, angesichts des digitalen Einreisenachweises einfacher zu kontrollieren, wer etwa Quarantänepflichten einhalte. Zudem muss jeder per Flugzeug Einreisende einen Negativtest vorweisen.
Seehofer kündigte an, dass man auf Flughäfen die Einhaltung der Einreisebestimmungen verschärft kontrollieren werde. Zudem würden im Grenzhinterland auch die Stichproben für die Einreisenden auf dem Landweg verstärkt. Dabei will die Bundespolizei diesmal vor allem Rückreisende aus der Türkei und den Balkan-Staaten ins Visier nehmen. 2020 sei vor allem bei dieser Personengruppe nach Familienbesuchen in der Heimat eine erhöhte Infektionsrate festgestellt worden, sagte Seehofer. In diesen Ländern liegt auch die Impfquote deutlich unter dem Niveau Deutschlands. "Wer einreist, muss damit rechnen, kontrolliert zu werden", sagte der CSU-Politiker.
SEEHOFER ATTACKIERT UEFA
Seehofer warf der Uefa vor, die erreichten Erfolge bei der Corona-Bekämpfung wieder aufs Spiel zu setzen. "Ich habe da ein bisschen den Verdacht, dass es da wieder um Kommerz geht, und der Kommerz darf nicht den Infektionsschutz für die Bevölkerung überstrahlen", sagte er. Die Uefa lasse etwa in Großbritannien Spiele ohne hinreichende Hygiene-Konzepte zu und fordere höhere Zuschauerzahlen in den Stadien. Die Uefa erklärte auf Reuters-Anfrage, dass die Schutzmaßnahmen an den Austragungsorten "vollständig mit den Vorschriften der zuständigen lokalen Gesundheitsbehörden übereinstimmen".
Die WHO machte die Menschenmassen bei der Fußball-EM für den Wiederanstieg der Corona-Zahlen verantwortlich. Nach einem zehnwöchigen Rückgang seien die Ansteckungszahlen in Europa in der vergangenen Woche um zehn Prozent gestiegen. Eine neue Corona-Welle sei unvermeidlich, wenn Vorsicht und Wachsamkeit aufgegeben würden. Die schottischen Behörden hatten am Mittwoch davon gesprochen, dass rund 2000 Neuinfektionen allein auf das Spiel England gegen Schottland in London zurückzuführen seien.
Zu den nötigen Anti-Corona-Maßnahmen im Sommer zählte Spahn auch, dass die 16 Bundesländer und die Kommunen sich auf den Schulstart vorbereiten. "Die Kinder und Jugendlichen haben es verdient, dass das die oberste Priorität ist, dass Schulen nach den Ferien so normal wie möglich starten können", sagte er. Ein Streitpunkt ist derzeit, ob alle Klassenzimmer mit Lüftungsgeräten ausgestattet werden. Dies ist Zuständigkeit der Kommunen und der Länder.
Der Vorstandschef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, kritisierte die Diskussion über schärfere Regeln zum Schutz vor der Delta-Variante. "Ich halte die Debatte derzeit für in Teilen fast schon hysterisch", sagte Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Es ist unverantwortlich, immer wieder mit Endzeitszenarien zu operieren", fügte er hinzu. Auch wenn die Zahl der Infektionen wieder steigen sollte, bedeute dies nicht notwendig, dass sich wieder die Krankenhäuser mit Corona-Kranken füllen müssten. Spahn sagte dazu, er hielte es für "fahrlässig", wenn angesichts der fehlenden Daten über die Wirkung der Delta-Variante Gefahren heruntergespielt würden. In der Bundesregierung wurde betont, dass ohnehin niemand mit einem Lockdown in einer möglichen vierten Welle rechne.