Verteidiger greifen Kronzeugen im Wirecard-Prozess an

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- von Jörn Poltz

München (Reuters) - Im Betrugsprozess um die milliardenschwere Pleite von Wirecard geht der Hauptangeklagte Markus Braun in die Offensive.

Der Verteidiger des ehemaligen Vorstandschefs Braun, Alfred Dierlamm, bezichtigte den Mitangeklagten und Kronzeugen Oliver Bellenhaus der Lüge und ging auf Konfrontationskurs zur Staatsanwaltschaft. Die Aussagen des ehemaligen Statthalters des Zahlungsdienstleisters in Dubai, auf die sich die Ermittler maßgeblich stützten, seien unplausibel und unglaubwürdig, sagte Dierlamm am Montag vor dem Münchner Landgericht. "Bellenhaus ist nicht Kronzeuge." Er sei Haupttäter einer Bande, deren Ziel es gewesen sei, Gelder aus dem Unternehmen herauszuleiten und zu veruntreuen. Dierlamm forderte, das Verfahren auszusetzen, damit die Ermittler ihre Versäumnisse bei der Aufklärung des Falles nachholen könnten. "Wir stehen heute vor einem Scherbenhaufen."

Bellenhaus' Verteidiger Florian Eder blieb dagegen bei dessen Darstellung: "Die Wirecard als solche war schlichtweg ein Blendwerk." Bellenhaus hatte sich nach dem Zusammenbruch von Wirecard im Sommer 2020 in München gestellt und als erster Manager bei der Staatsanwaltschaft ausgepackt. Er stehe zu seinen Fehlern und stelle sich seiner Verantwortung. "Für Herrn Bellenhaus darf ich mich stellvertretend bei den Geschädigten entschuldigen", sagte Eder. Nach Bellenhaus' Aussagen war das vermeintlich lukrative Asien-Geschäft mit Drittpartnern seit 2015 erfunden. Dierlamms Argumentation sei "völlig hanebüchen und abwegig", sagte der Verteidiger: "Er kommt aus dem Ausland, hat irgendwo Milliarden gebunkert, und kommt nur, um Herrn Dr. Braun in die Pfanne zu hauen."

Bellenhaus will am Mittwoch selbst aussagen. Dierlamm sagte, er werde erst im Januar sagen, wann Braun sich äußern werde.

"EINE ENORME MENGE AN AUFKLÄRUNGSARBEIT"

Die Anwältin des mitangeklagten Wirecard-Chefbuchhalters Stephan von Erffa, Sabine Stetter, kritisierte Bellenhaus als "zweifelhaften Kronzeugen" und warf der Staatsanwaltschaft vor, sie habe einseitig ermittelt. Bellenhaus habe riesige Mengen von E-Mails gelöscht, angeblich sein Mobiltelefon und seinen Laptop verloren und nur selektiv an die Staatsanwaltschaft berichtet. "Das alles zeigt, dass eine enorme Menge an Aufklärungsarbeit vor der Kammer liegt." Für den Mammutprozess sind bereits mehr als 100 Verhandlungstage angesetzt.

Dierlamm sagte, die Staatsanwaltschaft habe voreingenommen ermittelt. Sie habe nach der Flucht von Wirecard-Vorstand Jan Marsalek unter Erfolgsdruck gestanden. Damit sei klar gewesen: "Markus Braun musste hinter Gitter." Der über Jahre als Fintech-Visionär gefeierte Ex-Vorstandschef sitzt seit rund zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Braun sei vorverurteilt worden wie kein anderer seiner Mandanten in 30 Jahren, sagte der Anwalt aus Wiesbaden. "Die Vorverurteilung ist beispiellos wie prägend für dieses Verfahren." Die Strafkammer habe sich nicht die Mühe gemacht, die Angaben der Staatsanwaltschaft vor der Zulassung der Anklage zu überprüfen. Auch das Oberlandesgericht, das für Brauns Haft verantwortlich war, und der Untersuchungsausschuss des Bundestags seien Bellenhaus' Falschaussagen aufgesessen.

VISIONEN ODER HYPOTHESEN?

Die Münchner Staatsanwaltschaft hält Braun laut Anklage für den Kopf einer kriminellen Bande, die über Jahre die Bilanzen des einstigen Börsenlieblings gefälscht und milliardenschwere Scheingeschäfte erfunden habe, um Verluste zu verschleiern. Mit ihm stehen Bellenhaus und der ehemalige Wirecard-Chefbuchhalter von Erffa vor Gericht. Der 53-jährige Österreicher Braun sieht sich als Opfer von Managern um den flüchtigen ehemaligen Vorstand Marsalek, die Milliarden beiseite geschafft hätten. Er beharrt darauf, dass das Geschäft mit Drittpartnern in Asien auch nach 2015 existiert hat.

Dierlamm sagte, das gesamte Verfahren beruhe auf einer "falschen Verdachtshypothese, nämlich der Annahme, dass es auf den Konten der Drittpartner keine Umsätze gegeben hätte". Dabei habe sich die Staatsanwaltschaft zwei Jahre lang nicht die Mühe gemacht, die Zahlungsflüsse aufzuklären. Allein auf deren Konten in Deutschland seien aber zwischen 2016 und 2020 Einzahlungen von einer Milliarde Euro dokumentiert. "Von wegen null Euro, wie Herr Bellenhaus der Staatsanwaltschaft das vorgelogen hat", sagte Dierlamm. Allein an vier von Bellenhaus kontrollierte Firmen seien 750 Millionen Euro geflossen. Eder widersprach: Die genannten Kontobewegungen seien nicht wesentlich für die Sache. Man dürfe sich nicht täuschen lassen. "Dr. Braun verstand sich als Visionär. Eine solche Vision braucht auch die Verteidigung von Herrn Dr. Braun", sagte Bellenhaus' Anwalt.

(Bericht von Jörn Poltz; Geschrieben von Alexander Hübner; redigiert von Olaf Brenner. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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