Studie - Sorge um Erhalt des Lebensstandards nimmt zu

Berlin (Reuters) - Die Sorge der Deutschen um die eigene wirtschaftliche Lage hat sich nach der Corona-Krise und durch den Inflationsschub deutlich erhöht.
Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47 Prozent der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können. Das geht aus dem am Montag veröffentlichten Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. 2020 lag der Anteil der unteren Einkommenshälfte noch klar unter 50 Prozent, in der oberen Klasse sogar bei weniger als 32 Prozent.
Mit materiellen Einschränkungen und Zukunftssorgen geht vor allem bei ärmeren Menschen eine erhebliche Distanz zu wichtigen staatlichen und politischen Institutionen einher: Weniger als die Hälfte der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen findet der Studie zufolge, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniert. Sie sehen für sich auch nicht die Möglichkeit, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maß.
"Wir sehen in den Daten, dass Deutschland in einer Teilhabekrise steckt, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat", erklärten die Studienautoren Dorothee Spannagel und Jan Brülle. "Diese Krise hat eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive." Die materielle Seite zeige sich am stärksten bei Menschen in Armut. Für sie stünden unmittelbare materielle Mangellagen im Vordergrund. Ein Teil von ihnen wende sich relativ deutlich vom politischen System ab. "Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden", so die beiden Experten. Sogar in der Mittelschicht, insbesondere der unteren, würden "Zukunftsängste zunehmen und die politische Teilhabe teilweise brüchig".
Für den Verteilungsbericht wurden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen ausgewertet: Das sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 13.000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2022 reicht, wobei sich die Einkommensdaten auf 2021 beziehen. Zudem stützen sich die Forschenden auf die Lebenslagenbefragung der Böckler-Stiftung, für die in zwei Wellen 2020 und 2023 jeweils mehr als 4000 Personen repräsentativ befragt wurden.
Wie gleich oder ungleich Einkommen verteilt sind, wird über den sogenannten Gini-Koeffizienten ermittelt. Dieser reicht theoretisch von null bis eins: Beim Wert null hätten alle Menschen in Deutschland das gleiche Einkommen, bei eins würde das gesamte Einkommen auf eine einzige Person entfallen. 2010 lag der Gini-Wert den Angaben nach noch bei 0,282, während er bis 2021 auf einen Höchststand von 0,310 geklettert sei.
(Bericht von Rene Wagner, redigiert von Ralf Banser - Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)