Stefan Riße: An der Börse muss man immer mit dem Unerwarteten rechnen

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Die Aktien und insbesondere der DAX sind fulminant ins neue Jahr gestartet. Aber warum eigentlich? Die Weltwirtschaft steht vor einer vermeintlichen Rezession. In den Gewinnschätzungen für die Unternehmen ist dies aber noch nicht eingepreist, sodass Gewinnenttäuschungen zu erwarten sind. Die Zentralbanken befinden sich immer noch im Zinserhöhungszyklus. Ist das nicht Grund genug, pessimistisch zu sein?

Doch, eigentlich schon. Deshalb haben viele Strategen nach der Erholung seit Oktober vergangenen Jahres für das erste Halbjahr auch wieder fallende Kurse vorausgesagt. Auch ich war auf mittelfristige Sicht eher skeptisch eingestellt, insbesondere wegen des immer noch laufenden Quantitativ Tightening Programms (QT) der US-Notenbank Federal Reserve (Fed).

Squeezy

Es gibt auch an den Belastungsfaktoren nichts zu beschönigen, die ich zuvor aufgezählt habe. Insbesondere die Geldpolitik und hier die Tatsache, dass die US-Notenbank Federal Reserve nun planmäßig für 95 Milliarden US-Dollar pro Monat Wertpapiere verkauft und damit in genauer dieser Summe Liquidität aus dem Markt saugt. Nicht zu vergessen, dass auch die Europäische Zentralbank (EZB) bald mit dieser Politik beginnt, wenn auch in geringerem Ausmaß. Diese Faktoren sind eine sehr direkte und nicht nur psychologische Belastung.

Kurzfristig allerdings spielt die Positionierung der Anleger oft eine deutlich wichtigere Rolle und diese war zum Jahreswechsel so zurückhaltend, dass weitere Kursverluste kaum angezeigt waren. Das Put/Call Ratio in den USA auf Einzelaktien erreichte im 20-Tages-Durchschnitt historische Höchststände. Viele Anleger hatten sich also abgesichert.

In einer solchen Situation sind weitere Kursverluste dann eher unwahrscheinlich. Gibt es nur ein paar mutige Käufer, dann steigen die Kurse bereits bei geringen Umsätzen mit der entsprechenden Sogwirkung auf alle Anleger, die auf fallende Kurse gesetzt haben und ihre Verluste begrenzen müssen. Genauso in Not geraten dann institutionelle Investoren, die sich mit Benchmarks vergleichen lassen müssen. Deren Käufer treiben die Kurse dann weiter nach oben. Goldman Sachs hat jüngst die größten Short-Eindeckungen seit 1998 gemessen.

2 x 2 = 5 - 1

Die genannten Belastungsfaktoren sind real. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass ein durchweg bullisches Börsenjahr begonnen hat. Egal welchen Bärenmarkt man sich auch anschaut, alle fanden erst eine Bodenbildung mit der Wende in der Geldpolitik. Diese erscheint absehbar, wahrscheinlich kommen die Inflationsraten kurzfristig stärker runter als viele erwarten, weil Basiseffekte unterschätzt werden.

Im Monatsvergleich sank die Inflation in den USA bereits um 0,1 Prozent. Werden diese Daten offenbar, wird dies die Fantasie auf eine Wende in der Geldpolitik sicherlich beflügeln, so wie wir dies bereits bei den Inflationsdaten aus den USA erlebt haben, die im Oktober und November geringer ausgefallen waren als erwartet. Der echte monetäre Rückenwind setzt aber erst ein, wenn die Geldpolitik auch bereits gelockert wurde.

Am wichtigsten erscheint mir, dass die Wertpapierverkäufe durch die Fed und EZB wieder eingestellt werden. Noch allerdings trotzt die Beschäftigungslage der sich abschwächenden Wirtschaft, und deshalb ist der dadurch immer noch vorherrschende Arbeitskräftemangel derzeit der größte Feind der Aktienmärkte. Denn durch diesen Umstand können die Zentralbanken relativ gelassen eine schärfere Gangart fahren.

Solange die Menschen nicht arbeitslos werden, ist der soziale Frieden nicht in Gefahr. Die Abschwächung der Wirtschaft allein stellt kein Problem dar. Wenn die geldpolitische Wende also noch auf sich warten lässt, dann ist aber auch nochmals von einer Marktschwäche auszugehen. Hier gilt der alte Satz von Börsenaltmeister André Kostolany: „2 x 2 = 5 – 1“. Es kommt schon alles wie es kommen muss, aber nicht auf direktem Weg.

2023 kann trotzdem versöhnlich enden

Entlassungen könnten im Verlauf des Jahres allerdings schneller kommen als erwartet. Die Wirkung der Zinserhöhungen dürfte sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Immer dann, wenn Unternehmen umschulden müssen, und diejenigen, die bereits hoch verschuldet sind und sich nur mit den Minizinsen bisher durchwurschteln konnten, plötzlich umfallen. Wird eine solche Entwicklung immer stärker sichtbar, könnten die Zentralbanken so schnell wie sie zuletzt verschärft haben, auch wieder lockern. Wegen der generell hohen Verschuldung in der Welt ist eine deutlich restriktivere Geldpolitik, die den Zins über die Inflationsrate hebt, ohnehin nicht denkbar.

Diese Tatsache macht Hoffnung, dass selbst wenn wir in diesem Jahr zunächst nochmal deutlich fallende Kurse sehen, es nicht so schlimm kommt wie nach dem Platzen der Internet-Blase oder im Zuge der Finanzkrise. Womöglich enden die Aktien 2023 dann sogar im Plus. Wer langfristig investiert, sollte der aktuellen Gemengelage ohnehin nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, sondern sich darauf verlassen, dass seine Aktien in den kommenden Jahren so viel Ertrag erwirtschaften, dass er seine Investments allein dadurch irgendwann zurückbekommt. Und kurzfristig orientierte Anleger, die zuletzt auf der richtigen Seite standen, sollten vielleicht mal an Gewinnmitnahmen denken.

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