Israel strebt vollständige Kontrolle über den Gazastreifen an

Washington/Amman (Reuters) - Israel strebt trotz scharfer Warnungen der Vereinten Nationen die militärische Kontrolle über den gesamten Gazastreifen an.
"Wir haben die Absicht dazu", sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag dem US-Sender Fox News und bestätigte damit erstmals seit Tagen kursierende Spekulationen. Er fügte hinzu, später solle das Küstengebiet an "arabische Kräfte" übergeben werden, die das Gebiet dann "ordnungsgemäß regieren". "Wir wollen es nicht behalten", sagte Netanjahu. "Wir wollen eine Sicherheitsgrenze haben. Wir wollen es nicht regieren. Wir wollen dort nicht regieren."
Ob sich Netanjahus Plan so umsetzen ließe, ist fraglich. Aus jordanischen Regierungskreisen hieß es in einer ersten Reaktion, die arabischen Staaten würden nur Lösungen unterstützen, die von den Palästinensern selbst getragen würden: "Araber werden nur das unterstützen, worauf sich die Palästinenser einigen und was sie beschließen." Die Sicherheit in Gaza müsse durch legitime palästinensische Institutionen gewährleistet werden. "Die Araber werden weder Netanjahus Politik zustimmen noch seinen Schlamassel beseitigen."
Netanjahu sagte bei Fox News nicht, welche arabischen Länder an seinem Vorhaben beteiligt sein könnten. Auch blieb offen, ob Israels Militär langfristig im Gazastreifen bleiben könnte, wenn keine tragfähige Übergabe an arabische Länder möglich wäre.
Bei der Hamas hieß es in einer ersten Reaktion, Netanjahus Pläne kämen einem "Putsch" gleich. Sie zeige zudem, dass Netanjahu bereit sei, die israelischen Geiseln für seine persönlichen Interessen zu opfern.
Israels Militär kontrolliert nach eigenen Angaben derzeit etwa 75 Prozent des Gazastreifens. Der Großteil der rund zwei Millionen Einwohner des Küstengebiets wurde in den vergangenen knapp zwei Jahren mehrfach vertrieben. Helfer hatten zuletzt auf eine Hungersnot in Gaza hingewiesen. Netanjahu steht unter internationalem Druck, einen Waffenstillstand zu erreichen, sieht sich aber auch internen Forderungen aus seiner Koalition ausgesetzt, den Krieg fortzusetzen.
UN: "ZUTIEFST ALARMIEREND"
Die Vereinten Nationen (UN) hatten Pläne für eine vollständige Kontrolle schon am Dienstag als "zutiefst alarmierend" bezeichnet. "Das Völkerrecht ist in dieser Hinsicht eindeutig: Der Gazastreifen ist und muss ein integraler Bestandteil des künftigen palästinensischen Staates bleiben", hatte der stellvertretende UN-Generalsekretär Miroslav Jenca gesagt. Die Einnahme des ganzen Gazastreifens durch Israel könne katastrophale Folgen haben und auch das Leben der verbliebenen israelischen Geiseln dort weiter gefährden.
US-Präsident Donald Trump hatte sich am Dienstag indes nicht zu solchen Überlegungen äußern wollen. "Das wird weitgehend von Israel entschieden", hatte er erklärt. Die USA sind Israels wichtigster Unterstützer. Trump hatte Anfang des Jahres eine Übernahme des Gazastreifens durch die USA vorgeschlagen. Die Idee wurde von vielen arabischen Staaten, den Vereinten Nationen, Palästinensern und Menschenrechtlern abgelehnt.
Netanjahu äußerte sich am Donnerstag vor einem Treffen mit seinem Sicherheitskabinett. Dabei sollen Pläne erörtert werden, wie das Militär die Kontrolle über weitere Gaza-Gebiete übernehmen könnte. Die Idee war vor allem von rechtsextremen Ministern in Netanjahus Koalition geäußert worden. Zuletzt hatte es dazu bereits ein Treffen mit dem israelischen Militärchef gegeben, das von Insidern als angespannt beschrieben wurde, da dieser eine Ausweitung des Einsatzes ablehnt.
UMFRAGEN: MEHRHEIT IN ISRAEL WILL ABKOMMEN
Netanjahu hat wiederholt gesagt, er wolle den vollständigen Sieg über die radikal-islamische Hamas, die den Krieg mit ihrem Angriff auf Israel im Oktober 2023 von Gaza aus ausgelöst hat. Umfragen zeigen, dass die meisten Israelis sich ein Ende des Krieges durch ein Abkommen wünschen, das die Freilassung der Geiseln vorsieht, die in Gaza noch in der Hand der Hamas sind. Verteidigungsminister Israel Katz hatte am Mittwoch gesagt, das Militär werde die Entscheidungen der Regierung ausführen, bis alle Kriegsziele erreicht seien.
Im Gazastreifen befinden sich nach Angaben Israels noch 50 Geiseln, von denen wohl 20 noch am Leben sind. Die meisten der bisher freigelassenen Geiseln kamen nach diplomatischen Verhandlungen frei. Gespräche über einen Waffenstillstand, bei denen weitere Geiseln hätten freigelassen werden können, waren im Juli gescheitert.
(Bericht von Doina Chiacu, geschrieben von Ralf Bode, redigiert von Scot W. Stevenson. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)