Börsenweisheit: Mit dem Hintern verdient man mehr als mit dem Hirn!
Können Anleger den breiten Aktienmarkt dauerhaft schlagen? Gibt es Strategien, die zu größeren Gewinnen führen? Nein, besagt eine alte Börsenweisheit. Aber stimmt sie auch?
Zugegeben, es gibt Börsenweisheiten, die klingen ziemlich nach Stammtisch-Parole. Diese hier ist so eine: „Mit dem Hintern verdient man mehr als mit dem Hirn!“. Doch es steckt viel Weisheit in diesem launigen Spruch. Er ist ein Plädoyer für langfristiges Investieren. Doch in Zeiten, in denen die Börsen wie aktuell wild hin und her schwanken, erscheint diese Börsenweisheit vielen Anlegern doch recht antiquiert. Sie versuchen sehr aktiv, die Marktschwankungen zu nutzen und so eine Überrendite zu erzielen. Oder doch zumindest Verluste zu vermeiden. Aber klappt das auch? Funktioniert die alte Börsenweisheit etwa nicht mehr? Doch, das tut sie.
Anlageexperten können ihr einiges abgewinnen. „Nichts ist so unsicher wie der nächste Kurs oder gar der Wertpapierpreis am nächsten Tag“, sagt Thomas Meyer zu Drewer, Chef von Comstage. „Sicherer ist schon, dass Aktienkurse langfristig steigen, denn sie folgen volkswirtschaftlichen Entwicklungen und nehmen Gewinne von Unternehmen vorweg.“ Beide Argumente würden für die Börsenweisheit sprechen. Für Christian Kahler gibt es sogar keine wichtigere Strategie. „Am Aktienmarkt entscheidet nicht überdurchschnittliche Intelligenz über den Anlageerfolg, sonst stünden wohl nur Nobelpreisträger an der Spitze der reichsten Menschen“, sagt der Chefanlagestratege der DZ Bank. „Es kommt auf die Geduld und Leidensfähigkeit an, die ein Anleger aushalten kann.“ Hintern statt Hirn eben.
Kahler verweist auf einen Untersuchung aus den USA. Diese hat gezeigt, dass US-Anleger Aktien im Durchschnitt nur noch acht Monate im Depot halten. In den 1950er Jahren waren es noch acht Jahre. Der Experte rechnet vor: Ein Anleger, der mit einer Aktie zehn Prozent pro Jahr verdient und diese nach 20 Jahren verkauft, hat vor Steuern ein Plus von 570 Prozent erzielt. Ein Anleger, der ebenfalls zehn Prozent Bruttorendite pro Jahr erwirtschaftet, aber alle acht Monate umschichtet, hat am Ende lediglich ein Plus von 158 Prozent erzielt! „Steuern auf den Gewinn und Handelsgebühren schmälern den Gewinn bei jeder Transaktion, so dass sich der Zinseszinseffekt, den Albert Einstein einst als achtes Weltwunder bezeichnete, zu keiner Zeit frei entfalten kann“, fasst der Experte zusammen. Zu viel Hirn, zu wenig Hintern.
„Diese Weisheit hat über einen sehr langen Anlagehorizont gezeigt, dass man damit gut Geld verdienen kann“, bestätigt auch Michael Geke, Spezialist für die Entwicklung von algorithmischen Handelsstrategien und Gründer von Traderama. Das gelte aber nur für einen wirklich langfristig orientierten Investor, der auch stärkere Schwankungen aushalten könne. „Wer systematisch auch von den Bewegungen in den kürzeren Zeitfenstern von eine paar Wochen und Monaten profitieren möchte und dadurch nicht nur langfristigen Trends folgt, sondern auch aus den Bewegungen am Markt mehr Rendite erzielen möchte, der ist gezwungen, mehr das Hirn einzuschalten und den Hintern hochzunehmen.“ Es müsse mehr Aufwand betrieben werden und das Depot in kürzeren Zeitabständen überprüft und angepasst werden. „Als Entwickler von algorithmsichen Handelsstrategien sage ich aber auch, dass man das eine tun kann ohne das andere zu lassen.“ Geke würde beide Strategien kombinieren. „Warum nur eine Anlagestrategie nutzen? Warum nicht zwei oder drei Methoden einsetzen und dadurch nicht nur bei den Aktien, sondern auch bei der Anlagemethode diversifizieren?“, gibt er zu bedenken. „Somit ist man in den Lage, von kurz- und langfristigen Trends und Bewegungen zu profitieren.“ Also nicht „Time! Not Timing“ – eine andere bekannte Börsenweisheit mit derselben Aussage – sondern „Time and Timing“.
Ganz ohne Hirn geht es auch nicht
Von „Timing“ hält Comstage-Chef Meyer zu Drewer nicht so viel. Es werde meist von selbsternannten Gurus angepriesen, „bei denen hinterher dann ein Ereignis zur eigenen Anlagestrategie passte und vorher ein ganz anderes Szenario ausschlaggebend war“. Mit Blick auf die Vergangenheit sei es einfach, das richtige Timing zu erkennen, mit dem viel Geld zu verdienen gewesen wäre. „Vorher ist die Börse viel komplexer als oft dargestellt.“ Meyer zu Drewer rät Anlegern mit der entsprechenden Risikobereitschaft sich auf ihren „Hintern“ zu setzen nicht nur analytisch und von Zahlen getrieben „mit Hirnleistung“ vorzugehen. Natürlich sollten Anleger ihr Gehirn nicht komplett ausschalten, das wäre grob fahrlässig. Sie sollten sich Gedanken machen – über ihre Strategie, ihren Anlagehorizont, ihre Ziele, ihre Risikoneigung und von Zeit zu Zeit auch über die aktuelle Lage an den Märkten. „ Ich finde es gut, sich sowohl fundamental aber auch technisch über den Markt Gedanken zu machen, aber man sollte sich nicht verrückt machen lassen“, sagt Geke. Die Börsenweisheit mahnt zu mehr Gelassenheit und Ausdauer.
Auch die Zahlen des Fondsverbands BVI zeigen eindrucksvoll, dass es sich lohnt, bei der Aktienanlage sehr langfristig zu denken. Das vergangene Jahr war das schlechteste Börsenjahr seit der Finanzkrise, natürlich hat das auch Spuren in den Fondsbilanzen hinterlassen. Fonds, die in deutsche Aktien anlegen, lagen Ende November auf Sicht von einem Jahr durchschnittlich 15,1 Prozent im Minus. Da es im Dezember weiter runter ging, dürfte die Bilanz noch etwas schlechter ausfallen. Die aktuellen Zahlen liegen aber noch nicht vor. Sicher wäre es prima gewesen, im vergangenen Jahr nicht investiert gewesen zu sein. Auch global investierende Aktienfonds verloren durchschnittlich ein Prozent. Ganz anders sieht die Bilanz auf Sicht von zehn Jahren aus: Die Deutschlands-Fonds legten knapp 150 Prozent zu, durchschnittlich 9,6 Prozent pro. Auch das schwache Jahr 2018 konnte die Bilanz nicht nachhaltig trüben. Globale Aktienfonds verbuchten ein Plus von gut 130 Prozent oder 8,8 Prozent pro Jahr. Auch hier konnte der Kursrücksetzer nur wenig Schaden anrichten. Sitzfleisch hätte sich also durchaus ausgezählt.
Der Börsenweisheit kann übrigens auch Charlie Munger, der Geschäftspartner von Warren Buffett, viel abgewinnen. „Wenn Sie ein Unternehmen nur kaufen, weil dessen Aktie statistisch günstig ist, werden Sie sich jeden Tag Sorgen machen müssen, ob und wann der Aktienkurs den fairen Wert erreichen wird“, warnte er einst. Munger und Buffett setzten auf Einzeltitel, der Anlagehorizont ihrer Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway ist sehr lang. Wenn sie sich für eine Aktie entschieden haben, bleiben sie ihr treu. Munger ist überzeugt: „Kaufen Sie hingegen überragende Unternehmen mit Wettbewerbsvorteilen, können Sie in Ruhe auf Ihrem Allerwertestem sitzen und der Geldvermehrung zuschauen.“ Besser kann man es nicht formulieren, denkt Kahler.
Aber was unterscheidet eigentlich überragende Unternehmen von durchschnittlichen Unternehmen? „Üblicherweise haben überragende Unternehmen Wettbewerbsvorteile, die sie schützen“, sagt der DZ-Bank-Experte. Dazu gehören starke Markennamen wie etwa Coca Cola, Rolex oder Nestlé, die Kostenführerschaft à la Ryanair oder Costco, eine auf Exzellenz ausgerichtete Firmenkultur wie bei Goldman Sachs oder Danaher, Patente und Rechte wie sie Qualcomm und viele Pharmaunternehmen haben, Netzwerkeffekte à la Facebook und Visa oder anfallende Wechselkosten beim Wechsel des Anbieters, wovon Microsoft und SAP profitieren. „Wettbewerbsvorteile sorgen dafür, dass bei diesen Unternehmen die Rendite auf das eingesetzte Kapital wesentlich höher ist bei herkömmlichen Wald-und-Wiesen-Unternehmen, beispielsweise Stahlproduzenten oder Milchabfüllern, die in der Regel austauschbar sind und auch vor Pleiten nicht geschützt sind“, sagt Kahler. „Der Unternehmenswert und Aktienkurs steigen dann erheblich schneller.“
Buffett und Munger sowie ihre Mitarbeiter verwenden natürlich viel Zeit auf die Analyse der Unternehmen, haben exklusiven Zugang. Privatanleger sind Profianlegern in der Regel auch unterlegen, was den schnellen Zugang zu Marktinformationen oder Computersystemen im Handel betrifft. Allerdings haben sie gegenüber professionellen Investoren den unschätzbaren Vorteil, dass sie nicht Jahr für Jahr an ihrem Anlageerfolg gemessen werden. Für sie zählt die langfristige Redite, auch unter Berücksichtigung von Steuern und Inflation. „Sie können sich in Geduld üben, weil sie zunächst über Jahrzehnte hinweg als Nettosparer auftreten und das Vermögen erst zu Rentenbeginn benötigen“, sagt Kahler. Daher ist es gerade für Privatanleger eine gute Strategie, geduldig und regelmäßig am Aktienmarkt zu kaufen. „Je niedriger die Kurse, desto besser - dementsprechend ist jetzt ein guter Zeitpunkt.“ Die Angst vor Crashs und Blasen sollte dabei ausgeblendet werden, weil diese Faktoren auf lange Sicht keine Rolle spielen. „Die Hauptaufgabe des Anlegers ist es, sich in Geduld zu üben“, sagt Kahler. „Oder, mit den Worten Charlie Mungers, sich den Hintern platt zu sitzen.“
Von Jessica Schwarzer
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