Brexit: Tag der Entscheidung rückt näher – Die Hintergründe des Streits

onvista · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Am Dienstag soll das Schicksal Großbritanniens mit den 27 weiteren EU-Staaten beschlossen werden. Im Falle einer Ablehnung ihres Brexit-Abkommens hält Premierministerin Theresa May einen Stopp des EU-Austritts für wahrscheinlicher als einen Ausstieg ohne Deal. Das berichtete die britische Nachrichtenagentur PA am frühen Montagmorgen unter Berufung auf ein ihr vorliegendes Redemanuskript Mays, das für eine Rede am Montagmorgen in Stoke-on-Trent bestimmt ist, einer Stadt, die mehrheitlich für den Brexit ist.

Vieles deutet laut Beobachtern auf eine Niederlage Mays hin. Die Folge könnte ein ungeregelter Brexit zum Austrittsdatum am 29. März ohne Übergangsregelungen sein. Im Falle eines EU-Austritts ohne Abkommen droht Chaos. Die verschiedenen Brexit-Varianten und ihre Folgen:

Harter Brexit

Die Briten verstehen unter „hartem Brexit“ in der Regel den Plan der Premierministerin, ihr Land nicht nur aus der EU herauszuführen, sondern auch aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. May will stattdessen die Beziehungen über Freihandelsabkommen neu regeln.

Ein mit der EU ausgearbeiteter Brexit

Ein „weicher Brexit“ bedeutet nach diesem Verständnis: Austritt aus der EU, aber mit weiterem Zugang zum Binnenmarkt und Mitgliedschaft in der Zollunion. May will das nicht, weil sie die Bedingungen der EU ablehnt: Wer zum Binnenmarkt gehören will, muss auch den Zuzug von EU-Bürgern akzeptieren. Und als Mitglied der Zollunion darf man keine eigenen Handelsverträge schließen. Als günstigstes Szenario gilt jetzt, dass man sich fristgerecht bis Ende März auf einen Vertrag zum EU-Austritt und zu Eckpunkten für künftige Beziehungen sowie auf eine Übergangslösung einigt.

Brexit ohne Deal

Mit „hartem Brexit“ wird mittlerweile oft der Extremfall beschrieben – ein Scheitern der Verhandlungen und ein Ausscheiden Großbritanniens ohne Vertrag und ohne Übergangs- und Anschlusslösung. In Großbritannien wird dieser Brexit ohne Abkommen meist als „No-Deal“-Szenario oder „Brexit-Cliff-Edge“ (Brexit-Klippenrand) bezeichnet.

Die wichtigsten Akteure rund um die Brexit-Verhandlungen

May braucht 320 Stimmen im Parlament in London, damit ihr Brexit-Abkommen sicher ratifiziert wird. Grob gerechnet muss sie rund 115 Abgeordnete auf ihre Seite ziehen oder doppelt so viele zur Enthaltung bringen. Derzeit sehen die Verhältnisse im Unterhaus so aus:

Tory-Loyalisten (dafür)

Mindestens 150 Abgeordnete aus der konservativen Fraktion gelten als absolut loyal. Sie haben neben ihrem Mandat Jobs in der Regierung und müssten sie abgeben, um gegen das Abkommen zu stimmen. 200 Tory-Abgeordnete haben sich in der Vertrauensabstimmung in der konservativen Fraktion im Dezember hinter Premierministerin Theresa May gestellt. Sie kann insgesamt wohl auf etwa 205 Stimmen hoffen.

Konservative Brexit-Hardliner (dagegen)

Die sogenannte European Research Group um den exzentrischen Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg umfasst bis zu 80 Mann. Wie viele Parlamentarier aus dieser Gruppe auf jeden Fall mit Nein stimmen werden, ist unklar. May müsste den Großteil dieser Gruppe auf ihre Seite ziehen, um eine Chance zu haben. Dazu kommen etwa 20 unabhängige EU-Skeptiker.

EU-freundliche Tories (halb-halb)

Eine Gruppe von etwa zwölf Abgeordneten um den ehemaligen Generalstaatsanwalt Dominic Grieve kämpft für eine möglichst enge Anbindung an die EU oder gar eine Abkehr vom EU-Austritt. Im Brexit-Abkommen dürften einige die Chance sehen, wenigstens einen harten Bruch mit der EU zu vermeiden.

Labour-Loyalisten (dagegen)

Labour-Chef Jeremy Corbyn spekuliert auf eine Neuwahl, sollte das Brexit-Abkommen scheitern. Rund 180 Abgeordnete dürften seinem Aufruf folgen und gegen den Deal stimmen.

EU-freundliche Labour-Hinterbänkler (dagegen)

Auf den Hinterbänken bei Labour ist eine starke Bewegung entstanden, die ein zweites Referendum und eine Abkehr vom Brexit fordert. Die rund 60 Parlamentarier um den charismatischen Abgeordneten Chuka Umunna dürften das Abkommen auch ablehnen.

Labour-Rebellen (dafür):

Bis zu 20 Labour-Abgeordnete könnten versucht sein, für Mays Brexit-Abkommen zu stimmen. Entweder, weil sie selbst vom EU-Ausstieg überzeugt sind, oder weil sie wie die Abgeordnete Caroline Flint in ihren Wahlkreisen eine große Brexit-Wählerschaft haben.

DUP (dagegen)

Die zehn Abgeordneten der nordirischen Protestantenpartei könnten zum Zünglein an der Waage werden. Parteichefin Arlene Foster lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass ihre Partei das Abkommen nicht unterstützen will. Zudem droht die DUP damit, die Regierung fallen zu lassen. Die DUP will keinerlei Sonderstatus für Nordirland akzeptieren, wie er im Brexit-Abkommen vorgesehen ist. May ist seit der vorgezogenen Wahl 2017 auf die Stimmen der DUP angewiesen. Fraglich ist, ob sich die Nordiren mit weiteren Geldversprechen für ihre wirtschaftlich abgehängte Provinz kaufen lassen.

Weitere Opposition (dagegen)

Die Schottische Nationalpartei (SNP), die Liberalen, Grünen, die Waliser-Partei Plaid Cymru – die kleineren Oppositionsparteien haben gemeinsam rund 50 Abgeordnete. Die meisten haben sich klar gegen den Brexit positioniert und fordern ein zweites Referendum. SNP-Fraktionschef Ian Blackford gehört zu den entschiedensten Kritikern des Abkommens.

Die zentralen Köpfe im Brexit-Streit:

Theresa May

Die Premierministerin wird nahezu zerrieben zwischen den Brexit-Fronten im Londoner Parlament. Allerdings hat sie sich den Scherbenhaufen auch selbst zuzuschreiben: Sie hat es versäumt, einen Konsens im Parlament für ihre Brexit-Pläne zu schmieden. Nun will sie mit dem Kopf durch die Wand. Als sie 2017 eine Neuwahl ausrief in der Hoffnung, noch mehr Wählerstimmen zu gewinnen, verrechnete sie sich gründlich. Seit der Wahlschlappe ist sie auf die Stimmen der nordirischen DUP angewiesen, die ihr aber beim Brexit-Abkommen die Gefolgschaft verweigert. Auch innerhalb ihrer eigenen Konservativen Partei hat May mit vielen Widersachern zu kämpfen. Zuletzt hat sie oft täglich 20 Stunden gearbeitet, um das Ruder eventuell doch noch herumzureißen.

Jeremy Corbyn

Der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, wittert in Neuwahlen seine Chance und will die Regierung zu Fall bringen. Der Alt-Linke setzt auf soziale Themen und hat viele junge Anhänger – unter seiner Führung strömten die Massen wieder in die Partei. Der 69-Jährige stand in den vergangenen Monaten aber auch erheblich in der Kritik. Obwohl sich Corbyn vor dem Brexit-Votum 2016 gegen den EU-Austritt aussprach, sperrt er sich bislang gegen Forderungen in seiner Partei nach einem zweiten Referendum. Viele glauben, dass Corbyn insgeheim selbst ein Brexit-Anhänger ist. Außerdem wird ihm vorgeworfen, nicht entschlossen genug gegen antisemitische Tendenzen in der Partei vorzugehen.

Jacob Rees-Mogg

Mit seinen stets zu großen Anzügen, tiefem Scheitel und runder Brille sieht Jacob Rees-Mogg aus wie die Karikatur eines britischen Gentlemans aus den Tagen des späten Empires. Der erzkonservative Katholik ist zwar ein Hinterbänkler im Parlament, aber extrem einflussreich. Er steht einer rund 80-köpfigen Gruppe beinharter Brexit-Befürworter vor, die Mays Austrittsabkommen blockieren. Im Dezember zettelte er einen Misstrauensantrag gegen die Premierministerin an – sie gewann. Inzwischen spekuliert er wohl darauf, dass es zu einem Brexit ohne Vertrag kommt, wenn May mit ihrem Deal im Parlament scheitert.

Arlene Foster

Die nordirische Ex-Regierungschefin und DUP-Vorsitzende Arlene Foster sitzt zwar nicht im britischen Parlament, doch sie gilt als graue Eminenz in Westminster. Foster erlebte den Bürgerkrieg in ihrer Heimat als Kind hautnah mit, als ihr Vater, ein Polizist, von IRA-Attentätern angeschossen wurde. Ihre Protestanten-Partei ist Mehrheitsbeschafferin: Ohne die DUP ist die Regierung handlungsunfähig. Dass May ihren Deal offenbar gegen den Willen der DUP durch das Parlament peitschen will, zeigt, wie groß die Verzweiflung in London ist. Es gilt aber nicht als unmöglich, dass sich Foster und ihre Parteifreunde mit einer Geldspritze für ihre wirtschaftlich abgehängte Region umstimmen lassen. Zudem bekommt die DUP zunehmend Druck von Unternehmerverbänden in Nordirland, die einen Brexit ohne Abkommen verhindern wollen.

Dominic Grieve

Der ehemalige Generalstaatsanwalt gilt als Verfechter parlamentarischer Souveränität und als juristisches Superhirn der proeuropäischen Tory-Abgeordneten. Mit rund einem Dutzend Gleichgesinnter konnte er erzwingen, dass die Regierung das Brexit-Abkommen vom Unterhaus absegnen lassen muss. Die Abstimmung wird zum Endspiel in dem Machtkampf zwischen Regierung und Parlament. Grieve unterstützt inzwischen ein zweites Brexit-Referendum. Damit seine Rebellion erfolgreich sein kann, braucht er aber die Unterstützung der gesamten Opposition. Den Deal der Premierministerin dürften er und seine Mitstreiter allenfalls als geringstes Übel ansehen, wenn ansonsten ein chaotischer Brexit ohne Vertrag droht.

Der ungewisse Ausgang der Brexit-Abstimmung belastet auch die Märkte. Seit dem starken Rückgang zum Ende des vergangenen Jahres sucht der deutsche Leitindex DAX noch seine Richtung und schwankt in den letzten Tagen unter der 11.000er Marke.

Das britische Pfund ist seit Ende der letzten Woche auf einen Wert von 1,1185 Euro angestiegen, jedoch mit einem kleinen Rückgang von minus 0,24 Prozent seit Montag.

(ama/dpa-AFX)

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Titelfoto: A.Basler / Shutterstock.com

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