Wirecard: Ein Fehler, den sich alle eingestehen müssen – Konzern, Analysten, Experten und Anleger

onvista · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Die Hoffnung stirbt zuletzt, war wohl das Motto für viele Anleger bei den Papieren des Bezahldienstleisters aus Aschheim. Jetzt scheint die Hoffnung erst einmal begraben zu sein. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun ist zurückgetreten, für Treuhandkonten in Höhe von fast 2 Milliarden Euro gibt es wohl keine Belege und Banken könnten Kredite in fast der gleichen Höhe wohl heute noch kündigen. Der Dax-Konzern Wirecard steht vor einem riesigen Scherbenhaufen. Rückblickend muss vieles mit anderen Augen betrachtet werden. Aber eine Frage bleibt: Wer hätte wirklich erkennen können oder sogar müssen, dass bei Wirecard so etwas Großes im Argen liegt?

Financial Times hat den Anfang gemacht

Was wurde die britische Wirtschaftszeitung nicht für ihre negativen Artikel zum dem Dax-Konzern verflucht. Angenommen wurde sogar eine Privatfehde zwischem dem Autor und den Aschheimern. Dan McCrum schien keine Gelegenheit auszulassen, um einen Finger in die Wunde des „Geschäftsmodells“ von Wirecard zu legen. Das Ganze spitzte sich sogar bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zu, da McCrum mit Short-Sellern in Verbindung gebracht wurde. Die Ermittlungen brachten allerdings nichts und der Chefredakteur der „Financial Times“ stellte sich vor seine Autoren: „Wir stehen zu unserer Berichterstattung“.

Der stete Tropfen höhlt den Stein

Die „Financial Times“ hat den Anfang gemacht und immer mehr namhafte Vertreter aus der Branche haben angefangen im Geschäftsmodell des Bezahldienstleister zu bohren. Man konnte schon auf den Gedanken kommen, dass mit den ersten Vorwürfen aus Singapur eine mediale Hetzjagd auf den Dax-Aufsteiger begonnen hatte. Jede „Kleinigkeit“ wurde in langen Artikeln aufgearbeitet, um Schwächen und Missstände beim Geschäft von Wirecard aufzudecken. Vorstandschef Markus Braun war mehr damit beschäftigt zu erklären, dass an den Vorwürfen nichts dran sei, als sich um das Geschäft des Dax-Konzerns zu kümmern. Die Beteuerungen des Vorstandschefs verloren mit der Zeit aber immer mehr an Bedeutung und man stellt sich die Frage: Wusste er selbst tatsächlich nichts von den Vorgängen?

Nicht der erste Anlauf

Da Wirecard bereits vor dem Aufstieg in den Dax mehrfach das Opfer von Shortattacken geworden war, lag die Vermutung nahe, dass der Dax-Aufstieg und der hohe Kurs von fast 200 Euro eigentlich ein guter Zeitpunkt waren, für die nächste Attacke auf Wirecard. Die Artikel verfehlten ja auch nicht ihre Wirkung und Verbindungen der Autoren zu Hedgefonds waren eine naheliegende Begründung für die Artikel, auch wenn sie am Ende nicht stimmten.

Wirecard gelobte auch Besserung und mehr Transparenz nach jedem Artikel, doch unterm Strich wurde der Dax-Konzern immer mehr in die Enge getrieben – doch richtig sehen wollte es wohl nur die wenigsten. Schließlich hielten Wirecard, Analysten und Experten fleißig dagegen und betonten, dass das operative Geschäft prächtig laufe und die Vorwürfe am Ende entkräftet würden. Namhafte Analystenhäuser hielten am Anfang an ihren Kurszielen von 200 Euro und deutlich mehr fest. Selbst als die Aktie das erste Mal seit langer Zeit unter die Marke von 100 Euro tauchte. Die Chance auf eine Verdopplung der Aktie lockte daher auch immer mehr Anleger an. Wer kann bei der Aussicht auf mehr als 100 Prozent Gewinn schon die Finger stillhalten. Auch große Fondsgesellschaften stockten in Mitten der Krise ihre Anteile sogar noch ein wenig auf, im Vertrauen darauf, Wirecard werde schon alles entkräften.

Am Ende lagen eigentlich alle falsch

Hinterher ist man immer schlauer und Aussagen wie: Ich habe es ja schon immer gesagt, kann sowieso keiner leiden. Die Analysten haben zwar zuletzt ihre Kursziele deutlich reduziert und viele haben Donnerstag ihre Bewertung für Wirecard ausgesetzt, aber nach der Nachrichtenlage war das jetzt auch kein großes Kunststück mehr. Ich selbst habe auch in meiner Sendung Mahlzeit am Mittwoch gesagt, dass es zwar ein Risiko bei Wirecard gibt, ich aber nicht damit rechne, dass Wirecard die Zahlen erneut verschiebt. Auch ich habe mich getäuscht und die Aktien gegen Handelsende aus meinem Musterdepot geworfen und mir die Frage gestellt, hätte man das Desaster wirklich früher erkennen können, sogar müssen? Darauf gibt es eigentlich nur eine Antwort: Ja!

Die Anzeichen waren nicht nur da, sie haben einen förmlich angesprungen

In Nachhinein war es ein Fehler nicht spätestens nach dem KPMG-Sonderbericht die Flucht zu ergreifen. Die Sonderprüfer haben Wirecard mit ihren Aussagen zur Mitarbeit und zu den eingereichten Unterlagen schon ordentlich eins vor den Latz geknallt. Die BaFin sowie die Staatsanwaltschaft München haben danach Ermittlungen aufgenommen und gegen den Dax-Konzern wurden Klagen eingereicht. Eigentlich Signale, die einen förmlich anschreien. Je mehr Wirecard versuchte die Vorwürfe zu entkräften, desto schlimmer wurde die Lage, da immer mehr Unstimmigkeiten zu Tage gefördert wurden, die wohl in nicht bestehenden Treuhandkonten am Ende gipfeln. Tja, wer nicht hören will muss fühlen.

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser – verstehen ist am besten

Einer der bekanntesten Sprüche von Warren Buffett lautet: „Investiere nur in eine Aktie, deren Geschäft du auch verstehst.“ Bei Wirecard hat diese Weisheit wohl keiner wirklich beachtet. Analysten und Experten haben zwar mal darüber geklagt, dass das Geschäftsmodell von Wirecard nicht ganz so transparent ist, die Dynamik der Entwicklung und der schnell steigende Aktienkurs haben die Bedenken aber auch ganz schnell wieder verwischt. Bei solchen Umsatz- und Gewinnsteigerungen konnten alle auch mal 7 gerade sein lassen. Wer kommt denn auch schon auf die Idee, dass bei den Zahlen eines Mitglieds der Dax-Familie etwas nicht stimmen könnte, da schauen ja auch Wirtschaftsprüfer drüber.

Waren die etwa in den vergangenen Jahren zu sorglos, hat Wirecard alles ganz geschickt verdeckt oder gibt es die jetzt aufgetauchten Probleme wirklich erst seit 2018/19? Je mehr man sich mit dem Fall beschäftigt, desto mehr Fragezeichen ploppen auf. Diese gilt es jetzt zu klären und aus den Fehlern zu lernen. Das gilt durch die Bank weg für alle Beteiligten. Wirecard ist kein Einzelfall an den internationalen Börsen und wird auch bestimmt nicht der letzte Fall bleiben. Steinhoff oder Luckin Coffee sind ebenfalls Beispiele dafür, wie schnell manche Dinge aus dem Ruder laufen. Bei der chinesischen Kaffee-Kette hat ein Hedge-Fonds zuerst auf die Missstände aufmerksam gemacht. Aber in den meisten Fällen wird zunächst erst einmal eine böse Absicht aus dieser Ecke vermutet.

Mund abwischen und weiter

Fälle wie Wirecard sind am Ende des Tages nicht gerade förderlich für die Aktienkultur. Manch Anleger zieht sich nach so einem Erlebnis komplett aus dem Markt zurück und möchte nie wieder etwas von Aktien wissen. Je nach Verlust auch eine verständliche Reaktion. Allerdings ist ein Aktieninvestment immer mit Risiken behaftet. Auch Gewinnwarnungen führen teils zu heftigen Kursreaktion an der Börse und vernichten einen großen Teil an Wert, je nachdem wie überraschend sie kommen.

Fehltritte gehören an der Börse zum Geschäft und fast kein Anleger hat nicht schon einmal eine „Aktien-Leiche“ im Depot gehabt. Solange Wirecard nicht das einzige Pferd ist, auf das man im Depot gesetzt hatte, ist der Verlust schmerzhaft, aber wahrscheinlich auch verkraftbar. Jetzt gilt es, ihn an andere Stelle wieder reinzuholen – mit Aktien, die weniger riskant sind, dauert es zwar ein wenig länger, dafür ist die Freude am Ende aber nicht kleiner. Und ein kleiner, wenn auch schwacher Trost ist, dass bei Wirecard eigentlich alle eine lange Zeit falsch gelegen haben.

Von Markus Weingran

Foto: Anton Garin / Shutterstock.com

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