Wirecard: Pleiten, Pech und Pannen – Wer ist das Opfer? Der Dax-Konzern oder die Anleger? – Rund 9 Milliarden Euro Börsenwert nur heute vernichtet

onvista · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Das Drama rund um den Bezahldienstleister aus Aschheim geht in den nächsten Akt. Vielleicht sogar in den finalen Akt. Wirecard konnte heute erneut nicht die Zahlen für das abgelaufenen Geschäftsjahr präsentieren. Die Aktie bricht in der Spitze um mehr als 70 Prozent ein, Analysten setzen reihenweise die Bewertung aus, Staatsanwaltschaft und BaFin weiten die Ermittlungen aus, auf den „noch“ Dax-Konzern könnte eine riesengroße Klagewelle zurollen und die Forderungen nach einem Wechsel an der Spitze werden immer lauter. Wer setzt da noch einen Cent auf die Wirecard-Aktie?

Belege für 1,9 Milliarden Euro liegen nicht vor

Mal wieder wollte Wirecard für Ruhe sorgen, mal wieder ist der Schuss ganz gewaltig nach hinten losgegangen. Für das Testat, das EY dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten offenbar entscheidende Belege. Der Wirtschaftsprüfer habe den Konzern darüber informiert, dass über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro keine ausreichenden Prüfungsnachweise vorlägen. Es gebe Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder oder aus dem Bereich von Banken, die die Treuhandkonten führen, „unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden“. Diesmal geht es es nicht um eine kleinere Summe, wie bei den vorherigen Prüfungen, diesmal geht es um 1,9 Milliarden Euro – etwa ein Viertel von Wirecards gesamter Bilanzsumme.

Wie zu hören ist, soll der Auslöser des neuen Knackpunktes aktuelle Mitteilungen von zwei Banken sein, die die Treuhandkonten seit 2019 führen. Demnach könnten die betreffenden Kontonummern nicht zugeordnet werden. „Der verantwortliche Treuhänder steht in kontinuierlichem Kontakt mit den Banken und der Wirecard AG.“ Laut Wirecard-Chef Markus Braun hat der Wirtschaftsprüfer früher erteilte Bestätigungen der Banken nicht mehr anerkannt. „Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht“, versicherte Braun, dessen Glaubwürdigkeit mittlerweile mehr als angeschlagen ist.

Den Angaben zufolge haben Tochtergesellschaften von Wirecard auf die Treuhandkonten Sicherheitsleistungen von insgesamt 1,9 Milliarden Euro eingezahlt, um für das Risikomanagement für teilnehmende Händler zu garantieren. Die Konten würden von zwei asiatischen Banken geführt, die beide über ein Investmentgrade-Rating verfügten. Der seit 2019 amtierende Treuhänder nehme in Asien zahlreiche Mandate wahr, gibt Wirecard weiter an.

Dax-Konzern sieht sich als Opfer

Wirecard sehe sich als mögliches Opfer eines „gigantischen Betrugs“, sagte ein Sprecher am Vormittag. Der Konzern will daher jetzt Anzeige gegen unbekannt erstatten. Vorstandschef Braun relativierte die Aussage wenig später allerdings ein wenig. Ihm zufolge ist noch unklar, „ob betrügerische Vorgänge“ zum Nachteil von Wirecard vorliegen. Jedenfalls wird der Dax-Konzern nicht der einzige sein, der sich die Vorgänge jetzt noch einmal ganz genau anschaut.

BaFin weitet die Ermittlungen aus

Wegen des möglichen Betrugsfalls weitet die Finanzaufsicht BaFin ihre laufende Untersuchung aus. „Selbstverständlich fließt der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung ein“, erklärte eine Sprecherin der Behörde am Donnerstag in Bonn auf Anfrage.

Staatsanwaltschaft München schaut ebenfalls genau hin

Nach der Finanzaufsicht nimmt auch die Münchner Staatsanwaltschaft den Bilanzskandal unter die Lupe. Die Behörde stehe mit dem Unternehmen in Kontakt und prüfe auch diesen Vorgang, erklärte eine Sprecherin der Ermittlungsbehörde am Donnerstag auf Anfrage. Die Behörde ist bereits mit Wirecard befasst, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits wird ermittelt, ob Spekulanten das Unternehmen mit illegalen Kursmanövern attackiert haben. Andererseits wird gegen Vorstandschef Markus Braun und seine Kollegen in der Unternehmensspitze wegen des Verdachts ermittelt, zweimal für die Anleger irreführende Informationen veröffentlicht zu haben.

Die jetzige Prüfung der Ungereimtheiten in der Bilanz bedeutet allerdings nicht, dass nun auch in dieser Hinsicht ein formales Ermittlungsverfahren gegen konkrete Beschuldigte eingeleitet wird.

Klagewelle könnte drohen

Die Anwaltskanzlei Tilp, die bereits im Mai Klage gegen Wirecard eingereicht hatte, erklärte am Donnerstag, sie sehe sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass Wirecard „mehrfach erheblich gegen deutsches und europäisches Kapitalmarktrecht verstoßen und sich damit gegenüber Anlegern und Investoren schadensersatzpflichtig gemacht hat“. Das beantragte Musterverfahren gegen Wirecard sei nun um einzelne Gesichtspunkte zu erweitern.

Die Aktionärsvereinigung SdK erklärte, sie lasse aktuell von einer Anwaltskanzlei „eine rechtliche Einschätzung bezüglich möglicher Pflichtverletzungen der Organe und Dritter anfertigen“. Die SdK plane, ein gemeinsames Vorgehen geschädigter Aktionäre und Inhaber von Anleihen zu organisieren: „Es ist unter anderem geplant, mögliche Ansprüche zusammen mit einer Prozessfinanzierungsgesellschaft zu verfolgen.“

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Analysten nehmen Abstand

Neben JP Morgan, Goldman Sachs und der Commerzbank haben auch die Baader Bank, Warburg und die LBBW die Bewertung für die Wirecard-Aktie ausgesetzt. Independent hingegen hat noch eine Meinung zum Bezahldienstleister aus Aschheim. Die ist aber alles andere als rosig. Das Fazit der Experten: Es geht von „Buy“ auf „Sell“ und das Kursziel fällt von 120 auf 40 Euro.

Kopf von Markus Braun wird gefordert

Die Fondsgesellschaft Deka, einer der Großinvestoren des Konzerns, erneuerte ihre Forderung nach einem Rücktritt Brauns. „Wir sind fassungslos“, sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs Corporate Governance. „Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je.“ Es bleibe zu hoffen, dass der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht auch noch Auswirkungen auf das operative Geschäft habe.

Auch die Initiative Minderheitsaktionäre forderte personelle Konsequenzen bei Wirecard. Ziehe Firmenchef Markus Braun nicht „selbst den notwendigen Schluss, zurückzutreten und den Weg für eine umfassende Aufklärung freizumachen, muss der Aufsichtsrat hier nun klare Entscheidungen (..) treffen“, erklärte der Chef der Initiative, Robert Peres.

Es könnte noch schlimmer kommen für Wirecard

Jetzt droht Wirecard auch finanziell unter Druck zu geraten. Sollte der Konzern einen testierten Abschluss bis zu diesem Freitag (19. Juni) nicht vorlegen, könnten Banken ihm bestehende Kredite in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro kündigen, warnte das Unternehmen. Allerdings weiß der Dax-Konzern selbst nicht, bis wann er das Problem aus der Welt geschafft hat, falls das überhaupt möglich ist. Ein neues Datum für die Vorlage des Konzernabschlusses steht indes noch nicht fest. „Der Vorstand arbeitet mit Hochdruck daran, den Sachverhalt in Abstimmung mit dem Abschlussprüfer weiter aufzuklären“, heißt es nur von Wirecard.

Traurige Rekordjagd der Aschheimer

Der Kursverlust der Wirecard-Aktie am Donnerstag dürfte als einer der größten Tagesverluste eines Dax-Titels in die Geschichte eingehen. Ob der Zahlungsdiensleister den in der Finanzkrise verstaatlichen Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate an der Spitze ablöst, ist noch unklar.

Am Donnerstagnachmittag stürzte der Kurs des Wirecard Papiers wegen Problemen bei der Bilanzierung um bis zu 71 Prozent auf 29,90 Euro ab – damit sank der Börsenwert innerhalb im Vergleich zum Mittwochabend um rund neun Milliarden Euro auf unter vier Milliarden Euro. Als der Bezahldienstleister im September 2018 in den deutschen Leitindex aufgenommen wurde, war er mit einer Marktkapitalisierung von fast 25 Milliarden Euro wertvoller als die Deutsche Bank.

Hier sind die bisher zehn größten Tagesverluste von Dax-Werten in der Übersicht. Die Veränderungen beziehen sich bis auf SAP auf Verluste im Xetra-Handel.

1.) Hypo Real Estate -73,9% am 29.09.2008

2.) MLP -48,7% am 02.08.2002

3.) VW-Stammaktie  -45,3% am 29.10.2008

4.) Infineon -39,6% am 03.12.2008

5.) Hypo Real Estate -37,4% am 6.10.2008

6.) Hypo Real Estate -35,2% am 15.01.2008

7.) Wirecard -25,0% am 01.02.2019

8.) K+S -24,7% am 05.10.2015

9.) Commerzbank -24,0% am 29.09.2008

10.) SAP -23,6% am 23.10.1996

Folgt Wirecard bald der Lufthansa?

Sehen wir die nächste Bruchlandung im Dax. Anfang September überprüft die Deutsche Börse wieder die einzelnen Indizes. Sollte sich das Wirecard-Papier bis dahin nicht erholt haben, dann dürften Symrise und Delivery Hero mit den Hufen scharren, um den Platz von Wirecard einzunehmen. Damit wäre dann endgültig klar, dass der Ausflug in die höchste deutsche Börsenklasse Wirecard nur Ungemach beschert hat.

Ein neuer Chef muss her

Mit dem heutigen Tag dürfte Wirecard vorerst das letzte bisschen Vertrauen verspielt haben. Der Bezahldienstleister hat mittlerweile so viele Chancen verstreichen lassen Ruhe in den Konzern zu bringen, dass die Glaubwürdigkeit von Vorstandschef Markus Braun gen Null läuft. Wenigstens hat er es heute vermieden auf das starke operative Geschäft von Wirecard zu verweisen, wie er es sonst immer gerne macht, wenn die Argumente für seinen Konzern immer dünner werden.

Egal, ob Wirecard im vorliegenden Fall das Opfer sein sollte, Markus Braun muss sich den Vorwurf gefallen lassen, warum die Ungereimtheiten immer erst kurz vor knapp auftreten und nicht schon seit längerer Zeit angegangen werden. Unter seiner Führung ist Wirecard groß geworden und in den Dax aufgestiegen. In dieser Zeit wurde aber auch viel Porzellan in Aschheim zerschlagen.

Immer wieder wurde Wirecard angegriffen, immer wieder versicherte Markus Braun er werde die Vorfälle aufklären und immer wieder stürzte der Aktienkurz in die Tiefe – von fast 200 auf 30 Euro seit der Konzen im Dax ist. Im gleichen Zeitraum sank der Börsenwert auf 4 Milliarden Euro. Damit sind 21 Milliarden Euro mal eben verbrannt worden. Eine Zeche, welche die Anleger gezahlt haben.

Daher dürfte es an der Zeit sein, dass Markus Braun mit seiner gesamten Führungsriege die Koffer packt und das Schiff verlässt. Nur einer neuen Chefetage wird eine lückenlose Klärung auch abgenommen. Sollte das amtierende Management die Sache klären, dann bleibt immer ein fader Beigeschmack, dass vielleicht doch etwas vertuscht wurde.

Jetzt kann Markus Braun zeigen, wie sehr im Wirecard am Herzen liegt und den Bezahldienstleister retten, indem er selbst die Zügel aus der Hand gibt. Sicherlich ein schwieriger Schritt, aber wohl die einzige logische Konsequenz.

Von Markus Weingran / dpa-AFX / Reuters

Foto: Anton Garin / Shutterstock.com

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