Warum Evergrande nicht das nächste Lehman Brothers ist – und warum das trotzdem eine Chance bietet

onvista · Uhr

Mit Evergrande steht das laut CNN am höchsten verschuldete Immobilienunternehmen Chinas vor der Zahlungsunfähigkeit. In einigen Medien wurde dies als der Lehman-Moment Chinas bezeichnet. Mit mehr als 300 Milliarden US-Dollar an Verbindlichkeiten ist das gar nicht so weit hergeholt.

Es ist zwar etwas weniger als der rund 600 Milliarden schwere Schuldenberg, unter dem Lehman Brothers im Jahr 2008 kollabierte. Aber es ist dieselbe Größenordnung. Und dass ein größerer Teil der Schulden auf US-Dollar laufen, welche die chinesische Notenbank nicht einfach drucken kann, macht die Sache für China nicht einfacher.

Trotzdem dürfte die Zahlungsunfähigkeit dieses Unternehmens nur unwahrscheinlich auch nur annähernd solch gravierende Auswirkungen haben, wie es bei der Investmentbank vor 13 Jahren der Fall war.

Zunächst einmal müsste es jedem Betrachter der Situation schon seit einiger Zeit klar gewesen sein, dass es um Evergrande alles andere als gut steht, wie Makro-Investor James Aitken in einem Interview bei Real Vision ausführt:

„Ich glaube, es war vor zweieinhalb Jahren, als sie eine zweijährige Dollaranleihe zu 11,5 % auflegten. Wenn nun jemand mit so vielen Dollar-Schulden seine Dollar-Papiere zu 11,5 % anlegt, von denen 50 % […] vom Vorstandsvorsitzenden gekauft wurden, dann ist das ein Hinweis darauf, dass diese Leute ein paar Probleme haben.“

Die Schwierigkeiten bei Evergrande waren sowas von offenbar, dass dies keinem Verantwortlichen hätte entgehen können. Vor der Immobilienkrise wurde zwar auch vereinzelt vorher gewarnt. Die Risiken hinter den komplexen Finanzprodukten damals waren jedoch von außen nicht so offensichtlich zu sehen. Sollte die Evergrande-Situation zu einem Lehman-Moment werden können, dann müsste das praktisch schon gewollt gewesen sein, da man sich nicht schon viel früher um die Schwierigkeiten kümmerte.

Aber was ist mit der Herausforderung, dass China im Gegensatz zur Federal Reserve, die sich um die monetären Auswirkungen des Lehman-Zusammenbruchs kümmerte, nicht das Glück hat, US-Dollar zu drucken, sollten diese gebraucht werden, um einen Dominoeffekt zu verhindern?

Das ist laut James Aitken kein Problem. Alleine aufgrund von passiven Investmentvehikeln sei so viel Dollar-Liquidität netto in das chinesische Finanzsystem geflossen, dass dieses noch nie so sehr damit überschwemmt gewesen sei wie in diesem Moment.

James Aitken ist ein echter Kenner dieses Systems (der Vermögensverwalter Bill Fleckenstein nennt ihn deswegen „Herr der Dunklen Materie“). Wenn er so etwas mit Überzeugung sagt, dann können wir davon ausgehen, dass das stimmt. Offensichtlich müssen wir uns also keine Sorgen machen.

Auch der Makrostratege Jim Bianco schlägt dieselben Töne an und sagt dasselbe für die Auswirkungen auf die Welt außerhalb von China:

Die Evergrande-Anleihen werden bereits jetzt im Bereich von 20 Cent pro Dollar gehandelt. Welchen Schaden Evergrande dem Finanzsystem außerhalb Chinas auch immer zufügen wird […], er ist schon eingetreten. Er liegt zu diesem Zeitpunkt bereits in der Vergangenheit.

Diese Argumente sind valide. Daran ändert auch nichts, dass die Aktienmärkte am vergangenen Montag noch einmal stark Federn ließen.

Aber selbst, wenn es doch noch zu Dominoeffekten außerhalb Chinas kommen sollte, weiß jeder, was passieren wird: Wenn es irgendwo einen Mangel an US-Dollar geben wird, steht die amerikanische Notenbank bereit. Wahrscheinlich würde daraus nicht mehr werden, als wir es im März letzten Jahres erlebten, als die Covid-Krise für uns begann: vielleicht ein starker und schneller Absturz am Aktienmarkt – aber ein kurzer.

Trotzdem halte ich es für sinnvoll, diese Situation für sich zu nutzen. Das Marktgeschehen in den vergangenen ein bis zwei Wochen brachte bei einigen von uns sicherlich Gefühle hervor, die wir auch während der nächsten echten Börsenkrise erleben werden. Nur dann vermutlich etwas länger.

Wer sich also in den letzten ein bis zwei Wochen mit seinem Portfolio unwohl fühlte, für den dürfte es sich lohnen, das eigene Portfolio kritisch zu hinterfragen. Ich würde mir dabei Fragen wie die folgenden stellen:

-Könnte ich damit leben, wenn es um 50 % abstürzt und nicht schnell zurückkommt?

-Würde ich dann an meinen Positionen festhalten (wollen und können)?

-Hätte ich die Liquidität, die ich mir in solchen Situationen wünsche (zum Beispiel, um günstig an der Börse einzukaufen)?

Mit den Antworten auf diese Fragen sollte man ehrlich umgehen. Sollten sie eine Veränderung des eigenen Portfolios suggerieren, wäre jetzt sicherlich kein schlechter Moment, diese vorzunehmen. Im Zweifel kosten diese etwas Rendite, sollte der Aktienmarkt mittelfristig keine schwierige Situation mehr erleben.

Dafür aber dürften sie einiges an Kopf- und Bauchschmerzen ersparen, wenn es wieder soweit ist. Denn die Zeit wird auf jeden Fall irgendwann kommen. Aber sie wird niemandem etwas anhaben, der sich entsprechend darauf vorbereitet.

Foto: hxdbzxy/ Shutterstock.com

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