Heiko Böhmer: Die Halbwertzeit von Prognosen

Heiko Böhmer · Uhr
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Das neue Jahr hat uns schon sehr viel gezeigt: Die Marktlage an der Börse ist nicht so schlimm wie von vielen Experten vor einigen Wochen noch erwartet. Mitte Dezember war die Stimmung im Keller – die große globale Rezession war sicher. Viele Prognosen für 2023 hörten sich dementsprechend pessimistisch an. Nun hat die Stimmung doch deutlich gedreht. Die Rezession 2023 könnte vielleicht sogar ausfallen – zumindest auf globalem Niveau. Also sollten wir doch die Aussagekraft von konkreten Prognosen immer wieder hinterfragen, denn die Halbwertzeit vieler Prognosen ist nicht sehr lang.

In dieser Woche komme ich auf das Thema „Prognosen“, weil ich bei meinen zahlreichen Vorträgen immer wieder nach konkreten Prognosen für einzelne Anlageklassen gefragt worden bin. Oft geht es um die Indexstände an den Börsen – ob nun in Deutschland beim DAX oder in den USA beim S&P 500. Beliebt ist auch die Frage: Wo steht der US-Dollar am Jahresende?

Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Wenn Ihnen jemand sagt, dass am Jahresende der DAX bei 15.000 Punkten steht und der S&P 500 das Jahr mit 4.000 Punkten beenden wird, dann kann er das sagen. Vielleicht liegt ein solcher Experte am Jahresende sogar richtig damit. Aber die Wahrscheinlichkeit liegt doch um einiges höher, dass eine solche Prognose nicht zutrifft.

In einem Webinar in dieser Woche mit vier Kapitalmarkt-Experten sollten wir alle unsere konkrete Inflationsprognose für das Jahresende abgeben. Ähnlich wie andere Experten sagte ich auch, dass die Inflation 2023 in Europa voraussichtlich auf fünf Prozent und in den USA auf vier Prozent fallen wird.

Die Zukunft ist ungewiss – speziell am Kapitalmarkt

Offen gesagt: Auch hier schreibe ich nur die jüngste Entwicklung fort und denke, dass sich der Trend erst einmal gradlinig fortsetzen wird. Das kann so kommen oder auch nicht. Vieles spricht dafür, dass die Entwicklung zunächst einmal so weitergeht, doch haben die beiden vergangenen Jahre uns deutlich gezeigt, wie schnell sich Dinge doch verändern können und wie schnell alte Gewissheiten nicht mehr gelten, Stichwort „Zeitenwende“. Warum also dieser ungewisse Blick in die Zukunft?

Viele Fragen sind im Moment unbeantwortet, viele relevante Faktoren schlicht und ergreifend nicht abzuschätzen. Wer weiß schon, was Putin als nächstes tun wird, ob der Winter noch einmal kalt wird und Energie deswegen doch noch teuer wird? Deshalb werde ich auch weiterhin keine konkreten Markt- oder Inflationsprognosen abgeben. Es macht einfach keinen Sinn. Bin ich deswegen ein schlechter Kapitalmarktstratege, der sich das einfach nicht traut? Ich glaube nicht. Aber es ist aus meiner Sicht vielmehr entscheidend, dass man eine langfristige Perspektive an der Börse hat und immer weiß, WARUM man etwas kauft. Und da spielen die Qualität des einzelnen Unternehmens und der Einfluss langfristiger, fundamentaler Entwicklung eine größere Rolle als eine Punktprognose.

Vor allem solche strukturellen Trends sind es, die mich besonders interessieren. Was ich damit meine und warum diese strukturellen Veränderungen weit über die Kapitalmärkte hinausgehen, werde ich in der nächsten Zeit genauer vorstellen. Ich bin davon überzeugt, dass die langfristige Orientierung bei der eigenen Anlagestrategie der richtige Ansatz ist. Im besten Fall ist es dann egal, wo der DAX oder der Euro-Dollar-Wechselkurs am Jahresende stehen.

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