Schweigeminute und Luftalarm - Israel gedenkt Opfern des Hamas-Massakers

- von Steven Scheer und Yomna Ehab und Manuel Ausloos
Jerusalem/Reim (Reuters) - Auch am ersten Jahrestag des Massakers der radikal-islamischen Hamas in Israel und des dadurch ausgelösten Kriegs im Gazastreifen haben die Kämpfe in Nahost angedauert.
Die mit der militanten Palästinenser-Organisation verbündete libanesische Hisbollah-Miliz beschoss nach Polizeiangaben am Montag den Norden Israels mit Raketen, darunter auch die drittgrößte israelische Stadt Haifa. Der bewaffnete Arm der Hamas feuerte zudem nach eigenen Angaben eine Raketensalve auf die Wirtschaftsmetropole Tel Aviv ab. Im Zentrum Israels wurde Luftalarm ausgelöst. Das israelische Militär meldete, dass es einige Geschosse abgefangen habe. In der Nacht hatte es seine Angriffe auf Hisbollah-Stellungen im Süden des Libanon und in der Bekaa-Hochebene sowie im Raum Beirut fortgesetzt.
Genaue Angaben zu Schäden und Opfern lagen zunächst nicht vor. Medienberichten zufolge wurden zehn Menschen in der Küstenstadt Haifa verletzt. Fünf Raketen schlugen demnach zudem in der Gegend von Tiberias ein, 65 Kilometer weiter östlich. Die israelische Polizei bestätigte Raketentreffer in Haifa. Das israelische Militär teilte derweil mit, dass es bei seinen jüngsten Luftangriffen auf Hisbollah-Ziele im Libanon unter anderem Geheimdienst-Einrichtungen, Waffenlager und einen Kommandoposten getroffen habe. Bei Kämpfen im Grenzgebiet wurden nach Armeeangaben zwei israelische Soldaten getötet. Seit einigen Tagen sind auch israelische Bodentruppen im Libanon im Einsatz.
Ungeachtet der anhaltenden Kämpfe gedachten die Menschen in Israel unter strengen Sicherheitsvorkehrungen den Opfern des Überraschungsangriffs der Hamas am 7. Oktober 2023. Die Islamisten töteten damals nach israelischen Angaben etwa 1200 Menschen und verschleppten ungefähr 250 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. Das israelische Militär reagierte mit einer Großoffensive, in deren Verlauf es einen Großteil des dicht besiedelten Küstengebiets in Schutt und Asche legte und nach palästinensischen Angaben bislang fast 42.000 Menschen getötet wurden. Ein Teil der Geiseln ist frei, einige tot, 101 Geiseln befinden sich nach wie vor in Gefangenschaft. Wie viele noch leben, ist unklar.
"WIR STECKEN IN EINEM ENDLOSEN TAG DES TERRORS FEST"
Einige Gedenkveranstaltungen fingen bereits um 06:29 Uhr morgens (Ortszeit) an. Zu dem Zeitpunkt begann vor einem Jahr der Hamas-Angriff. Präsident Isaak Herzog kam zu einer Zeremonie in der Nähe des Kibutz Reim, wo allein mehr als 360 Teilnehmer eines Musikfestivals umgebracht und Dutzende verschleppt worden waren. "Wir werden uns immer daran erinnern, wer entführt, wer ermordet, wer vergewaltigt, wer abgeschlachtet hat. Gleichzeitig haben wir aber auch außergewöhnliche Tapferkeit erlebt. Wir haben ein wunderbares Volk, und an diesem Tag stärken wir es und rufen zur Einheit auf", sagte Herzog.
In Jerusalem versammelten sich rund 300 Menschen vor dem Wohnsitz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, darunter Angehörige der Geiseln. Sie hielten eine Schweigeminute ab, unterbrochen vom Geheul einer Warnsirene. "Wir stecken immer noch im 7. Oktober 2023 fest, in einem endlosen Tag des Terrors, der Angst, des Zorns, der Verzweiflung", sagte Juwal Baron, dessen Schwiegervater Keith Siegel in Gaza als Geisel festgehalten wird. "Wir wollten diesen Tag gemeinsam beginnen, um uns selbst, unseren Ministerpräsidenten, die israelische Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass es trotz des Trauertages immer noch eine heilige Mission gibt, die Geiseln zurückzubringen."
ANGST VOR EINEM FLÄCHENBRAND
Der Gaza-Krieg hat sich längst zu einem Mehrfronten-Konflikt ausgeweitet, in den sich neben der Hamas und Hisbollah etwa auch die ebenfalls zu Irans "Achse des Widerstands" zählende Huthi-Miliz aus dem Jemen eingeschaltet hat. Bereits einen Tag nach Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen verschärfte sich die Sicherheitslage an Israels nördlicher Grenze. Immer wieder feuerte die Hisbollah aus Solidarität mit den Palästinensern vom Libanon aus Raketen auf den Norden Israels, gefolgt von israelischen Gegenangriffen.
Vor etwa zwei Wochen richtete Israel dann verstärkt den Fokus auf den Libanon und die Hisbollah, um Zehntausenden Israelis die Rückkehr in ihre Häuser und Wohnungen in der Region zu ermöglichen, die wegen der ständigen Schusswechsel evakuiert wurde. Inzwischen ist das Militär wie im Gazastreifen auch im Libanon mit Bodentruppen im Einsatz, weit über 1000 Menschen wurden getötet. Im Süden des Libanon hat eine Massenflucht eingesetzt, mehr als eine Million Menschen wurden vertrieben. Im Gazastreifen musste ein Großteil der 2,3 Millionen Bewohner seine Bleibe aufgeben, viele harren in Zeltlagern aus, die Versorgungslage ist dramatisch.
Die Eskalation des Konflikts schürt zunehmend Sorgen, dass es zu einem Flächenbrand im Nahen Osten kommen könnte, zumal der Iran kürzlich fast 200 Raketen in Richtung Israel abgefeuert hatte. Befürchtet wird der Ausbruch eines direkten Kriegs zwischen den beiden Erzfeinden, in den auch die USA als Israels wichtigster Verbündeter hineingezogen werden könnten.
(geschrieben von Christian Rüttger, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)