Ausgeträumt!

Stefan Riße · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Wir Deutschen sind bekannt für unser Sicherheitsbedürfnis. Nirgendwo gibt es mehr Versicherungen pro Kopf als hierzulande und ist die Rente so heilig. „German Angst“ ist längst zum international geflügelten Wort geworden. In Frankreich hingegen lebt das Volk der Revolutionäre. Wird dem Franzosen seitens seiner Regierung etwas zugemutet, geht er auf die Barrikaden und die LKWs stehen quer auf den Straßen. Der Amerikaner ist das genaue Gegenteil des Franzosen. Er glaubt an den amerikanischen Traum, auf dem das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gegründet wurde und dass jeder es zu Wohlstand und Reichtum bringen kann, wenn er sich genug anstrengt. Er denkt an Reichtum, nicht an Rente.

Vom Traum zum Albtraum

Die Realität der USA von heute sieht hingegen anders aus. Für immer mehr Amerikaner ist der Traum vom Aufstieg längst zur Illusion geworden. Bereits seit den 90er Jahren wurden breite Bevölkerungsschichten vom wirtschaftlichen Aufschwung abgehängt. Was sie erlebten waren zwischenzeitliche Reichtumsillusionen zu Zeiten des Immobilienbooms. Nach dem Platzen der Blase am Häusermarkt blieb vielen am Ende nur ein Schuldenberg, der höher war als der Wert ihrer Immobilie. Wirklichen Wohlstandszuwachs gibt es hingegen schon lange nicht mehr. Die Reallöhne stagnieren seit Jahren. Wie sich aus einer Studie der Universität von Kalifornien in Berkeley ergab, sind in den USA von 2009 bis 2012 die Einkommen der oberen 1% um real durchschnittlich 31,4% gestiegen, während die übrigen 99% der Haushalte lediglich einen Zuwachs um 0,4% verzeichneten. Das offiziell schon wenig erbauliche Zahlenwerk sieht in Wirklichkeit noch schlechter aus. Die USA berechnen ihre Inflationsrate hedonisch. Das heißt Produkte, die im Preis tatsächlich gestiegen sind, werden als preisstabil erfasst, sofern sich die Qualität ebenfalls erhöht hat. Dass es den günstigeren, weniger leistungsstarken Computer aber nicht mehr zu kaufen gibt, interessiert die Statistiker nicht.

Es bedarf keiner Statistik, um zu erkennen, dass es dem Durchschnittsamerikaner heute schlechter geht als vor 20 Jahren. Nicht wenige haben zwei oder drei Jobs, um ihren Lebensstandard halten zu können. Die Arbeitslosenzahlen sehen ebenfalls besser aus als die Realität. Die meisten Jobs sind im Niedriglohnsektor entstanden und viele US-Bürger lassen sich gar nicht mehr als arbeitssuchend registrieren, weil sie die Hoffnung längst aufgegeben haben.

Raffgierige Eliten

Es liegt auf der Hand, dass es leichter ist, den Durchschnittsamerikaner zu regieren als den Franzosen. Das Interesse an Politik ist mäßig und das verankerte Prinzip der Eigenverantwortung sorgt dafür, dass die Erwartungen an den Staat und somit die Regierenden gering sind. So war es möglich, dass in den vergangenen Jahren die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderging, ohne dass sich Protest regte. Aufschlussreich ist ein Bericht des Pew-Forschungsinstituts, das aktuelle Regierungsstatistiken auswertete und sich mit der Vermögensverteilung befasste. Demnach wuchs das kumulierte Nettoprivatvermögen der wohlhabendsten 7% der Amerikaner seit dem Ende der Rezession, also 2009, um 28%, während die unteren 93% in demselben Zeitraum eine Einbuße von 4% hinnehmen mussten.

Es stellt sich die Frage, warum die vom Volk gewählten Vertreter im Kongress sich um das Wohlergehen der reichsten zehn Prozent kümmern und die Interessen der Mehrheit ihrer Wähler dabei auf der Strecke bleiben. Die Antwort gab jüngst eine Studie des Center for Responsive Politics. Demnach verfügen 268 der 534 Kongressmitglieder über ein Vermögen von einer Million Dollar und mehr. Es ist kein Wunder, dass die Abgeordneten längst den Bezug zur Lebensrealität des Durchschnittsamerikaners verloren haben. Es macht Lobbyisten zunehmend überflüssig. Denn was gut für Millionäre ist, ist auch gleichzeitig gut für diejenigen, die die Gesetzte entwerfen und beschließen. Präsident Barack Obama, der angetreten war, um genau das zu ändern, hat leider auf ganzer Linie versagt.

Die Revolution klopft an die Tür

Die Spezies Homo Sapiens neigt leider immer zur Übertreibung und Maßlosigkeit, sofern ihr keine Grenzen gesetzt werden. Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer sagte einst: „Geld ist wie Meerwasser. Je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man.” Die amerikanischen Eliten werden irgendwann Opfer Ihrer Gier werden. Das Census Bureau des US-Handelsministeriums hat errechnet, dass mehr als 40% des Volkseinkommens mittlerweile auf das Konto der oberen 10% geht. Eine absurde Relation.

Noch sehr leise, aber doch unverkennbar regt sich nun so langsam Widerstand gegen die Politik der Eliten. Die Leute merken, dass sie immer mehr arbeiten müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können. Occupy Wall Street war die Bewegung einer kleinen Gruppe, viel bedeutender war die Wahl des neuen New Yorker Bürgermeisters Bill de Blasio. Der Demokrat löste den durchaus nicht unbeliebten Milliardär und Republikaner Michael Bloomberg ab. De Blasio punktete vor allem mit Parolen gegen ökonomische Ungerechtigkeit. Die Wahl des Ex-Aktivisten ist eine Zeitenwende, wahrscheinlich für die gesamten USA. Auf zu große Ungerechtigkeit folgt die Revolution. Das war schon immer so.

Für das Börsenjahr 2014 ist dies noch nicht relevant. Längerfristig aber spricht es für ein hohes Konfliktpotenzial und vor allem für mehr Inflation. Denn deutliche Lohnsteigerungen werden die Folge sein. Nur so wird sich der Glaube an den amerikanischen Traum wieder herstellen lassen.

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