Bundesregierung ruft Alarmstufe aus - "Sind in einer Gaskrise"

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- von Holger Hansen und Christian Krämer

Berlin (Reuters) - Die deutlich reduzierten Gaslieferungen aus Russland alarmieren die Bundesregierung.

"Wir sind in einer Gaskrise. Gas ist von nun an ein knappes Gut", sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Donnerstag in Berlin. "Die Preise sind jetzt schon hoch, und wir müssen uns auf weitere Anstiege gefasst machen." Der Grünen-Politiker rief die sogenannte Gas-Alarmstufe aus. Bisher galt die Frühwarnstufe. Spätestens im Winter könnte die Notfallstufe ausgerufen werden. Dann drohen Rationierungen. Das könnte ganze Unternehmen umwerfen und eine schwere Rezession nach sich ziehen, wie Ökonomen bereits warnen.

Mit der Alarmstufe soll Experten zufolge der Ernst der Lage verdeutlicht werden - mit dem Ziel, möglichst viel Energie freiwillig einzusparen. Die Bundesregierung verzichtete aber auf eine wichtige Maßnahme, die Unternehmen und Verbrauchern sofortige drastische Preiserhöhungen bei Erdgas eingebrockt hätte: Die erst im Mai geschaffene gesetzliche Preisanpassungsklausel wurde nicht aktiviert. Mit ihr hätte es auch in laufenden Verträgen Sondererhöhungen geben können.

"Wir wollen den Markt weiter beobachten", so Vize-Kanzler Habeck. Es gebe ja bereits deutliche Preissteigerungen für Verbraucher und werde bei auslaufenden Verträgen weitere geben. Eine Deckelung der Gaspreise werde nicht angestrebt. Vielmehr sollten die negativen Effekte abgemildert werden. Noch sei die Versorgungssicherheit gewährleistet. Die Regierung wolle vor allem Geringverdiener entlasten. Das sei die Aufgabe der nächsten Wochen.

"Wir müssen alles daran setzen, dass wir mit vollen Speicherständen in den Winter gehen", sagte Habeck. Es gebe bei der Versorgung eine trügerische Sicherheit im Sommer. "Aber der Winter wird ja kommen." Bei den derzeitigen Gasflüssen sei die geplante Befüllung der Speicher bis zum 1. November auf 90 Prozent ohne zusätzliche Maßnahmen nicht mehr erreichbar. Die Speicherstände stehen derzeit bei unter 60 Prozent.

WER MUSS ALS ERSTES VERZICHTEN?

"Es muss jetzt bei den unvermeidbaren Kostenbelastungen ein fairer Ausgleich zwischen den Gasversorgern und den Gaskunden geschaffen werden", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Peter Adrian. "Sonst besteht die Gefahr, dass insbesondere Unternehmen in der energieintensiven Industrie ihre Produktion einstellen und in der Folge Insolvenzen drohen." Die Lage auf dem Gasmarkt sei bedrohlich, sagte der Regierungsberater und Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Jens Südekum, der Nachrichtenagentur Reuters. Im Winter drohten Rationierungen und Produktionsstopps. "Eine schwere Rezession könnte die Folge sein."

Die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sagte der "Rheinischen Post", ein sofortiges Verbot für den Einbau von Gasheizungen müsse her. "Eine Abwrackprämie für alte Gasheizungen wäre ebenso sinnvoll wie ein Wärmepumpen-Sofortprogramm." Industrie und Haushalte sollten Prämien bekommen, wenn sie Energie einsparten. Ähnlich äußerte sich der Greenpeace-Experte Gerald Neubauer: Der Staat dürfe Gas nicht länger subventionieren.

Die Regierung erhofft sich Entlastung durch eine neue Auktionsplattform, auf der industrielle Großkunden Gasmengen anbieten könnten, die sie nicht benötigen. Dies soll im Sommer wirksam werden. DIHK-Präsident Adrian sagte, dies seien richtige Schlüsse. "Sie müssen nun aber rasch an den Start gehen. Außerdem sollte es den Unternehmen erlaubt werden, kurzfristig von Gas auf Heizöl oder Kohle umzusteigen." Dem stünden umweltrechtliche Vorschriften noch im Weg.

BANGEN IN LUDWIGSHAFEN

Einer der Verlierer könnte BASF, der weltgrößte Chemiekonzern, werden. Das Dax-Unternehmen sieht keine kurzfristige Lösung, Erdgas zu ersetzen, das für viele Prozesse in der Industrie benötigt wird. Der Hauptstandort in Ludwigshafen könnte mit einer reduzierten Last weiterbetrieben werden, wenn die Versorgung nicht unter 50 Prozent des maximalen Gasbedarfs sänke. Der Konzern ist in Gesprächen mit Kunden und der Politik. Es gebe Produkte, die für die Lebensmittelproduktion, die pharmazeutische Industrie und Automobilhersteller unerlässlich seien. "Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir mit der Bundesnetzagentur besprechen, welche Anlagen wir abschalten sollen", erklärte eine BASF-Sprecherin.

Ein ganzer Kollaps von Unternehmen wird nicht mehr ausgeschlossen. Auch Habeck sprach von einem möglichen Lehman-Brothers-Effekt im Energiesystem. Mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank beschleunigte sich 2008 die Finanzkrise und mündete in eine Weltwirtschaftskrise. Die reduzierten Gaslieferungen Russlands seien ein ökonomischer Angriff auf Deutschland, so Habeck. Außerdem werde die Ostsee-Pipeline Nord Stream I ab dem 11. Juli gewartet, was den Gasfluss durch die Röhre unterbrechen werde.

Die Frühwarnstufe galt seit Ende März, also gut vier Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, der die Energiepreise in die Höhe getrieben hat. Für eine Ausrufung der Notfallstufe braucht es die Zustimmung des gesamten Kabinetts, wenn Gas Mangelware wäre. Die Bundesnetzagentur würde dann bestimmen, wer noch Gas bekommt. Geschützt sind private Haushalte und Einrichtungen wie Krankenhäuser. Die Industrie müsste dagegen mit Einschränkungen rechnen.

Die jetzige Verkündung der Alarmstufe ist auch eine Voraussetzung für die Umsetzung der Pläne der Bundesregierung, dass vermehrt Kohle-Kraftwerke wieder ans Netz geholt werden, um Erdgas bei der Stromproduktion einzusparen. Das entsprechende Gesetz soll am 8. Juli den Bundesrat passieren. Habeck sagte, die Kraftwerksbetreiber bereiteten sich bereits darauf vor, dann in zweieinhalb Wochen Kohle-Kraftwerke aus der Reserve zu holen.

Der klimapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andreas Jung, forderte, Habeck müsse transparenter machen, welche zusätzlichen Energiekapazitäten es aus Norwegen, Katar und anderen Ländern gebe. Außerdem müsse der Staat mit gutem Beispiel vorangehen und in allen öffentlichen Gebäuden Energie einsparen. Der Linken-Politiker und Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für Klimaschutz und Energie, Klaus Ernst, forderte ein Ende der Energie-Sanktionen gegen Russland. "Die Bundesregierung sollte anerkennen, dass ein kurzfristiger Verzicht auf russische Energie die russische Armee nicht bremst und der eigenen Bevölkerung und Unternehmen massiv schadet."

(Mitarbeit von Tom Käckenhoff, Rene Wagner und Patricia Weiß, redigiert von Hans Seidenstücker.; Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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