ROUNDUP 4: Israel mobilisiert vor möglicher Gaza-Offensive 300 000 Reservisten

dpa-AFX · Uhr

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TEL AVIV/GAZA (dpa-AFX) - Angesichts des verheerenden Angriffs der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Palästinenserorganisation Hamas hat Israel die Mobilisierung von rund 300 000 Reservisten angeordnet. Das Land steht möglicherweise vor einer militärisch wie diplomatisch riskanten Bodenoffensive in dem dicht besiedelten Küstenstreifen am Mittelmeer. Es sei die größte Mobilisierung in der Geschichte in so kurzer Zeit, sagte ein Armeesprecher am Montag.

Die Hamas, die von den USA, der EU und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, hatte am Samstag bei einem Großangriff auf das Grenzgebiet unter Zivilisten das schlimmste Blutbad seit der israelischen Staatsgründung angerichtet. Dabei wurden mindestens nach neuen Angaben rund 800 Menschen getötet und rund 2600 verletzt. Mehr als 4500 Raketen wurden inzwischen nach den Angaben auf Israel abgefeuert.

Auch an Israels Nordgrenze zum Libanon gab es Gefechte, und das verstärkte die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts. Israelische Kampfhubschrauber griffen Ziele im Südlibanon an. Soldaten hätten zuvor mehrere bewaffnete Verdächtige erschossen, die nach Israel vorgedrungen waren, teilte das israelische Militär mit.

Die wie die Hamas mit dem Iran verbündete Schiitenorganisation Hisbollah dementierte eine Beteiligung. Sicherheitskreise im Libanon vermuten, dass militante Palästinenser hinter dem Angriff stehen. Hisbollah hatte am Sonntag die Verantwortung für einen Raketenbeschuss auf israelisches Grenzgebiet übernommen.

Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach vom "blutigsten Tag" seit dem Holocaust. Große Sorge bereitete das Schicksal von rund 150 in den Gazastreifen verschleppten israelischen Geiseln und eine mögliche Ausweitung des Konflikts.

Die Außenminister der Europäischen Union wollten an diesem Dienstag bei einem außerordentlichen Treffen über die Lage sprechen, teilte EU-Außenbeauftragte Josep Borrell auf der Plattform X (ehemals Twitter) mit.

Auch für die rund zwei Millionen überwiegend armen Bewohner des Gazastreifens dürfte sich die Lage weiter extrem verschlechtern. Bei massiven israelischen Luftschlägen starben nach palästinensischen Angaben bisher mehr als 550 Menschen, mehr als 2800 wurden verletzt.

Israel ordnete die komplette Abriegelung des nur 40 Kilometer langen und sechs bis zwölf Kilometer breiten Gazastreifens an, der nur etwas größer als München ist. Verteidigungsminister Joav Galant sagte: "Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff geben." Energieminister Israel Katz verfügte einen Stopp der Wasserversorgung des Gazastreifens durch Israel. Das Grundwasser im Gazastreifen ist stark versalzen.

Aus Ägypten wurden humanitäre Hilfslieferungen verschiedener Organisationen vorbereitet, sagte ein palästinensischer Sprecher am ägyptischen Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens. Auch viele Krankenwagen standen bereit, wie es weiter hieß. Aus Sicherheitskreisen erfuhr dpa, dass bislang keine palästinensischen Verwundeten angekommen seien.

Deutschland, die EU und andere Staaten wie Australien teilten mit, sie setzten Hilfen für die palästinensische Bevölkerung angesichts des Hamas-Terrors zunächst aus. Die deutschen Programme würden umfassend und mit offenem Ausgang überprüft, sagte eine Sprecherin des Entwicklungsministeriums in Berlin.

Hamas-Terroristen waren am Samstag, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora), in grenznahe Orte eingedrungen und auf der Suche nach Opfern von Haus zu Haus gegangen. Sie erschossen Männer, Frauen und Kinder und verschleppten andere in den Gazastreifen. Bei einem Musikfestival in der Negev-Wüste wurden nach Angaben von Rettungskräften allein 260 überwiegend junge Teilnehmer von den Terroristen getötet. In sozialen Medien waren grauenvolle, nur schwer zu ertragende Bilder zu sehen.

Israel nimmt das Schicksal verschleppter Bürger extrem ernst. Die Dimension der jetzigen Geiselnahme wird erst angesichts eines früheren Falls wirklich deutlich. 2006 entführte die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Schalit, hielt ihn fünf Jahre in Gaza gefangen, bis er 2011 nach jahrelangen Verhandlungen unter anderem unter Vermittlung eines deutschen Diplomaten gegen mehr als 1000 in Israel inhaftierte Palästinenser ausgetauscht wurde.

Unter den nun Verschleppten sind auch Bürger mehrerer westlicher Staaten, darunter eine Deutsche. Viele besitzen den Berichten zufolge die doppelte Staatsbürgerschaft.

Die Hamas forderte einen Gefangenenaustausch. Sie verlange die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen, sagte ein Hamas-Sprecher. Wie viele israelische Frauen ausgetauscht werden sollen, sagte er nicht. Der Golfstaat Katar vermittelt demnach. Ein Sprecher der israelischen Regierung wollte sich dazu nicht äußern.

Viele Israelis, die seit Jahrzehnten mit Gewalt konfrontiert sind, sind geschockt und wütend, dass das hochgerüstete Land so überrumpelt werden konnte. "Das ist ein großes Versagen. Trotz der ganzen Technik, der Zäune und hohen Kosten, unglaublich", sagte ein israelischer IT-Spezialist in Tel Aviv der Deutschen Presse-Agentur.

Die Armee reagierte mit massiven Bombardierungen des Gazastreifens. Es sei ein Gebäude angegriffen worden, in dem Angehörige der Hamas untergebracht waren, teilte die Armee mit. Auch mehrere Kommandozentralen der Hamas seien attackiert worden.

Die Möglichkeit einer israelischen Bodenoffensive in den Gazastreifen stand weiter im Raum. Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte am Sonntag "Rache" geschworen. "Wir werden den Nahen Osten verändern", sagte er einer Mitteilung der Repräsentanten israelischer Ortschaften im Süden des Landes zufolge. "Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein. Wir sind erst am Anfang." Aufgabe der Armee sei es, die Hamas so zu schwächen, dass sie Israelis nicht mehr bedrohen und den Gazastreifen nicht mehr regieren könne, sagte ein Armeesprecher./ln/stz/le/DP/ngu

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