Zweifel trotz Lob - US-Raketenfreigabe für Ukraine zu spät?

Reuters · Uhr
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- von Tom Balmforth und Max Hunder und Lili Bayer

Kiew (Reuters) - Womöglich als Abschiedsgeschenk erlaubt der scheidende US-Präsident Joe Biden der Ukraine jetzt doch, von den USA bereitgestellte weitreichende Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen.

Damit sollen russische Nachschubwege, Produktionsstätten und Abschussrampen angegriffen und somit Attacken auf die ukrainische Zivilbevölkerung abgewehrt werden können. Zuletzt hat der russische Raketenbeschuss von Städten in der Ukraine wieder zugenommen. In Europa wird die US-Entscheidung weitgehend begrüßt. Experten fürchten aber, sie könnte für die Ukraine zu spät kommen.

Seit Monaten sind die ukrainischen Streitkräfte an den Frontverläufen im Osten und Süden unter Druck. Dies gilt auch für die eroberten russischen Gebiete in der Region Kursk, mit denen die Regierung in Kiew den Druck auf Russlands Präsident Wladimir Putin bei möglichen Friedensverhandlungen erhöhen will. Für Michael Kofman von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden in Washington kommt die Entscheidung der USA aber zu spät, "um den Verlauf der Kämpfe wesentlich zu ändern". Zudem seien Langstreckenwaffen immer nur ein Teil des Puzzles "und wurden in diesem Krieg mit zu großen Erwartungen belastet".

Ohnehin könnte die neue Politik aus Washington nur von kurzer Dauer sein. Richard Grenell, einer der engsten außenpolitischen Berater des neuen US-Präsidenten Donald Trump, hat bereits Kritik an dem Schritt geäußert. Unklar ist weiter, ob Trump den generellen Ukraine-Kurs der Biden-Regierung fortsetzen wird, die die Ukraine finanziell und militärisch vor Deutschland am meisten unterstützt. Zudem hat Trump gelobt, den Krieg schnell beendet zu wollen. Wie dies gelingen könnte, hat er bislang aber nicht preisgegeben.

"NOCH NICHT DEN CHAMPAGNER ÖFFNEN"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bittet die Alliierten seit Monaten, die von ihnen gelieferten Waffen für Angriffe auf russischem Territorium freizugeben. Das russische Militär feuert mitunter von weit in russischem Gebiet stehenden Abschussrampen Raketen auf ukrainische Städte. Für die ukrainische Luftabwehr wird dies zunehmend zu einem Problem. Im Fall der Großstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine hatten die westlichen Partner bereits eine Ausnahme gewährt und Angriffe auf russische Stützpunkte im Grenzgebiet genehmigt. Danach ließen die russischen Angriffe auf die Stadt merklich nach.

Jetzt könnten die ersten ukrainischen Angriffe auf Ziele in Russland wahrscheinlich mit ATACMS-Raketen in den nächsten Tagen schon erfolgen. Die ATACMS haben eine Reichweite von etwa 300 Kilometer. Experte Kofman rechnet damit, dass die Ukraine mit den Raketen versuchen werde, die russischen Gebiete in Kursk zu halten. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis dämpfte aber allzu große Euphorie. Er würde "noch nicht den Champagner öffnen", da unklar sei, wie viele Raketen die Ukrainer hätten und ob sie genug hätten, um das Schlachtfeld zu beeinflussen.

Frankreich und Großbritannien haben noch nicht klar gemacht, ob sie den USA folgen und der Ukraine die Nutzung von Storm Shadow/SCALP-Marschflugkörpern erlauben würden. Die Waffen haben eine Reichweite von 250 Kilometern. Ein europäischer Regierungsvertreter sagte allerdings, Russland habe bereits viele seiner Luftwaffensysteme außerhalb der Reichweite westlicher Waffen in sein Hinterland verlegt. Mehrere Experten werfen dem Westen vor, immer wieder zu lange zu zögern, was Russland Vorteile verschaffe. Dies war auch bei der Lieferung von Kampfpanzern oder dann auch von Kampfflugzeugen der Fall.

"DIES HALTUNG WIRD SICH NICHT MEHR ÄNDERN"

Bundeskanzler Olaf Scholz hat seit Beginn der Vollinvasion am 24. Februar 2022 immer wieder betont, seine Entscheidungen im Einklang mit den USA zu treffen. Im Fall einer Freigabe von weitreichenden Waffen scheint dies nicht mehr so zu sein. Scholz hält in dieser Frage an seinem "Nein" fest. Der Kanzler habe immer wieder betont, dass es nicht zu einer Eskalation dieses Krieges kommen dürfe, sagte ein Regierungssprecher in Berlin am Montag. "Deshalb gibt es für den Bundeskanzler bestimmte Grenzen, die er an der Stelle nicht überschreiten wird, er hat sich klar festgelegt, und diese Haltung wird sich auch nicht mehr ändern."

Allerdings gibt es laut Verteidigungsministerium in Berlin in der Ukraine bislang kein von Deutschland geliefertes Kriegsgerät, das in die Kategorie der weitreichenden Waffen fallen würde. Allein der deutsche Marschflugkörper Taurus mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern würde sich dafür qualifizieren. Aber auch in dieser Frage hält Scholz an seinem "Nein" fest - obwohl seine verbliebenen Koalitionspartner der Grünen wie auch FDP und CDU/CSU hier eine gegensätzliche Position einnehmen.

Auf den Straßen von Kiew herrscht die allgemeine Meinung vor, dass die Entscheidung der USA hilfreich sei, aber viel zu spät komme. "Das hätte entweder als präventive Maßnahme oder als scharfe Reaktion im Februar oder März 2022 eingesetzt werden sollen", sagte die 21-jährige Olga Korowjatschuk. "Jetzt spielt es keine große Rolle mehr."

(Mitarbeit und bearbeitet von Alexander Ratz; Redigiert von Christian; Rüttger; Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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