Ukraine meldet russischen Großangriff auf Energieanlagen

(Weitgehend neu)
Kiew/Moskau (Reuters) - Russland verschärft im dritten Winter seines Angriffskriegs gegen die Ukraine die Gangart gegen die Energie-Infrastruktur des geschundenen Landes und verbucht an der Ostfront immer mehr Erfolge.
Am Freitag überzogen russische Raketen und Drohnen nach ukrainischen Angaben das ganze Land mit Luftangriffen, die vor allem die Energieversorgung trafen. Zugleich standen russische Truppen nach Darstellung von Militärbloggern kurz vor der Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der ostukrainischen Region Donezk.
Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj setzte Russland bei seinen jüngsten Angriffen auf die Energie-Infrastruktur seines Landes insgesamt 93 Raketen und 200 Drohnen ein. Davon seien 81 Raketen abgefangen worden, elf davon von Kampfjets des Typs F-16. Selenskyj forderte schärfere Sanktionen gegen Russland, um die dortige Raketenproduktion einzuschränken. Generell sei für einen Frieden die Stärke der Ukraine entscheidend. Mit Worten könne Russlands Präsident Wladimir Putin nicht gestoppt werden.
"Der Feind setzt seinen Terror fort", schrieb der ukrainische Energieminister German Galuschtschenko auf Facebook. "Erneut steht der Energiesektor in der gesamten Ukraine unter massivem Beschuss." Nach Angaben des nationalen Netzbetreibers Ukrenergo war die Stromversorgung in der ganzen Ukraine eingeschränkt. Landesweit gab es Luftalarm. Lokale Behörden meldeten mehrere Explosionen in der Hafenstadt Odessa. In Kiew waren demnach Luftabwehrsysteme in Betrieb. Das ukrainische Energiesystem wurde in diesem Jahr bereits von elf russischen Angriffswellen heimgesucht, die landesweit erhebliche Schäden und langanhaltende Stromausfälle verursacht haben.
Angesichts des dritten Kriegswinters zielt die russische Strategie offensichtlich darauf ab, die ukrainische Zivilbevölkerung zu zermürben. Außenminister Andrij Sybiha appellierte an Partnerländer, dringend mehr Luftabwehrsysteme zu liefern. "Russland zielt darauf ab, uns die Energie zu nehmen. Stattdessen müssen wir ihm die Mittel des Terrors entziehen. Ich wiederhole meinen Aufruf zur dringenden Lieferung von 20 Luftabwehrsystemen des Typs NASAMS, Hawk oder Iris-T", schrieb Sybiha auf X.
MEHR ALS 300 QUADRATKILOMETER EINGENOMMEN
Im Osten der Ukraine konnten russische Truppen ihren Vormarsch fortsetzen und befanden sich Kriegsbloggern zufolge nur noch 1,5 Kilometer außerhalb von Pokrowsk. Die Truppen rückten demnach von Süden aus vor. Einige Spezialeinheiten hätten bereits wichtige Verkehrsknotenpunkte der Stadt erreicht, wie Juri Podoljaka, ein prominenter in der Ukraine geborener, pro-russischer Militärblogger berichtete. In der Region Donezk kontrolliert Russland mittlerweile über 60 Prozent des Territoriums. Mit der Einnahme von Pokrowsk wären die ukrainischen Versorgungslinien erheblich gestört. Reuters konnte die Angaben unabhängig nicht überprüfen.
Der Fall von Pokrowsk, einem wichtigen Logistikzentrum für das ukrainische Militär, wäre einer der größten militärischen Verluste der Ukraine in den vergangenen Monaten. Die Stadt beherbergt auch eine Mine, die der einzige inländische Kokskohlenlieferant für die einst riesige Stahlindustrie der Ukraine ist. Der ukrainische Stahlhersteller Metinvest BV hat die Nutzung der Mine aufgrund der Kampfhandlungen bereits eingeschränkt, wie aus Branchenkreisen verlautete. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind in den vergangenen Monaten mehr als 300 Quadratkilometer ukrainischen Gebiets eingenommen worden.
(Bericht von Reuters, Anastasiia Malenko; Bearbeitet von Alexander Ratz; Redigiert von Christian Rüttger; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)