Börsenweisheit: Sind die Börsen zu weit gelaufen?

onvista · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Viele Krisen, aber steigende Kurse. Konjunktursorgen, aber Rekorde an der Börse. Das erinnert an Kostolany Gleichnis von einem Mann und seinem Hund. Zu Recht?

Handelskonflikte, Iran-Krise, Brexit, sinkende Unternehmensgewinne, maues Wirtschaftswachstum weltweit – und die Kurse steigen. In Erwartung auf bessere Zeiten? Schließlich heißt es oft, an der Börse wird die Zukunft gehandelt. Oder um es mit den Worten von Börsenaltmeister André Kostolany zu sagen: „Das Verhältnis von Wirtschaft zur Börse ist wie das eines Mannes auf einem Spaziergang mit seinem Hund. Der Mann geht stetig voran, der Hund rennt vor und zurück.“ Experten können dieser Börsenweisheit eine Menge abgewinnen.

Anlegerschützer Marc Tüngler von der DSW beispielsweise hält diese Börsenweisheit für sehr zutreffend. „Nur dass derzeit der Abstand zwischen dem Mann und dem Hund größer und damit die Leine immer länger wird“, sagt er. „Das nennt man dann Volatilität, weil einfach die Nervosität auch an den Märkten steigt, was dazu führt, dass der Hund manchmal sehr weit vorausläuft und manchmal eben auch sehr weit zurückfällt.“ Und genau diese Volatilität seit eben ein fester Bestandteil der Märkte und absolut nichts ungewöhnliches, ergänzt Andreas Telschow, Anlageexperte bei Fidelity International. „Dass die Kapitalmärkte in gewissen Phasen mal mehr schwanken und die Rücksetzer etwas größer ausfallen, ist durchaus normal“, sagt auch Nermin Aliti, Leiter Fonds Advisory und Produktmanagement bei Laureus Privat Finanz. Wichtig sei immer der mittel- bis langfristige Ausblick. „Ist man als Anleger positiv gestimmt, müssen diese Rücksetzer als Kaufgelegenheiten genutzt werden, um antizyklisch Positionen aufzubauen.“

Doch wie ist die Lage aktuell überhaupt? Besser als gedacht? „Es ist ja schon erstaunlich, dass trotz der vielen negativen Nachrichten und Unwägbarkeiten die Aktienkurse derart stabil bleiben, wie wir sie in den letzten Wochen gesehen haben“, sagt Tüngler und gibt sich optimistisch. „Das lässt auch für die nächsten Monate hoffen.“ Also läuft der „Hund“ vielleicht doch gar nicht zu weit voraus, muss also gar nicht zurückrennen? „Aus makroökonomischer Sicht deutet der Frühindikator von Fidelity aktuell erstmals seit Februar 2017 auf eine moderate Konjunkturbelebung hin“, sagt Telschow. Ähnliches gelte für die Aktienkurse, die sich in den ersten vier Monaten des Jahres stetig aufwärts bewegten, wohingegen die Kursschwankungen zurückgingen.  „Zumindest für diesen Zeitraum trifft die Börsenweisheit also nicht unbedingt zu, da sich sowohl die Fundamentaldaten als auch die Kurse positiv entwickelten“, sagt er. „Das ist jedoch immer eine Momentaufnahme.“

Nach einem schwachen Mai war dann aber der Juni Rekordmonat. An vielen Märkten entwickelten sich die Aktienkurse so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. War das zu viel des Guten? Droht vielleicht doch ein Rücksetzer und was könnte ihn Auslösen? Die potenziellen Gründe für auch deutliche Rücksetzer muss man nicht lange suchen. Der Iran-Konflikt, der durch Trump getriebene Protektionismus und natürlich auch die Handelsstreitigkeiten bieten auskömmlich Projektionsfläche für schlaflose Anleger-Nächte. „Vergessen darf man aber auch nicht, dass beispielsweise Trump nicht als der Präsident in die Geschichtsbücher eingehen möchte, in dessen Amtszeit der größte Crash an der Börse stattfand“, gibt Tüngler zu Bedenken. „Als Dealmaker braucht Trump schlichtweg den ‚großen Deal‘. Er wird schauen, dass er diesen so lange hinauszögert, dass er erst möglichst kurz vor seiner potenziellen Wiederwahl gelingt.“

Auch der Fidelity-Experte ist verhalten optimistisch, schließt aber einen deutlichen Rücksetzer nicht aus. „Zumindest könnte es zu einem erhöhtem Verkaufsdruck kommen, sollte sich der Handelskonflikt verschärfen oder sollten sich die Fundamentaldaten verschlechtern“, gibt Telschow zu bedenken. „Denn aus unserer Sicht überschätzen die Marktteilnehmer in vielen Ländern die globalen Wachstumsaussichten.“ Zumal die wirtschaftlichen Fundamentaldaten negativ überraschen könnten. Neue handelspolitische Spannungen hätten den Kursaufschwung schließlich bereits ausgebremst. „Deshalb gewichten wir Aktien aktuell unter, wobei wir regional unterschiedliche Akzente setzen und die Zinssignale der amerikanischen und europäischen Notenbank die Situation entspannen könnten“, so Telschow. In China beispielsweise könnten sich die Anreizmaßnahmen in der zweiten Jahreshälfte positiv bemerkbar machen. „Zwar belastet der Handelskonflikt mit den USA die Stimmung an den Märkten, er könnte aber zu weiteren Stützungsmaßnahmen führen“, so der Anlageexperte. „Dies wäre günstig für China und generell für die aufstrebenden Länder Asiens.“

Laureus-Experte Aliti glaubt, dass die wirtschaftliche Lage trotz der weiter eintrübenden Frühindikatoren noch robust aussehe. „Aus den USA haben wir im ersten Quartal 2019 ein starkes Wachstum gesehen“, sagt er. „Zudem ist die Arbeitslosenquote auf einem Allzeittief und die Stundenlöhne steigen derzeit noch über drei Prozent.“ In China siehe die wirtschaftliche Entwicklung ebenfalls positiv aus. Lediglich in Europa habe sich das Wirtschaftswachstum stärker verlangsamt. Zudem sei die politische Unsicherheit relativ betrachtet höher als in anderen Regionen. Sein Fazit: „Die aktuelle Lage an den Märkten könnte sich durchaus weiter positiv entwickeln“, sagt er. „Rücksetzer müssen allerdings jederzeit einkalkuliert werden.“

Doch so optimistisch ist nicht jeder Experte. Es gibt durchaus eine Diskrepanz zwischen Börsenentwicklung und Fundamentaldaten. „Schaut man sich die volkswirtschaftlichen Indikatoren und auch die Prognose sowie Aussichten der einzelnen Unternehmen an, so ist man schon erstaunt, dass die Börse sich so wacker schlägt und die Kurse nicht weiter absinken“, sagt Tüngler. „Augenscheinlich ist die Hoffnung bei den Anlegern derzeit größer als die Sorge, dass es in naher Zukunft doch deutlich schlechter wird.“ Die Hoffnung nähre sich auch daraus, dass Aktien weiterhin alternativlos seien, wenn man auf der Suche nach Rendite sei. Und in der Tat gibt es derzeit wieder verstärkten Rückenwind von den Notenbanken. Die US-Notenbank Fed hat ihren Zinsanhebungszyklus beendet und es wird sogar mit einer baldigen Zinssenkung gerechnet. Das hat die Aktienmärkte beflügelt. Der befürchtete Liquiditätsentzug wurde abgewendet. Im Gegenteil: Die Politik des billigen Geldes scheint alternativlos – auch aufgrund des derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Umfelds. Der Hund scheint also nicht allzu weit vorausgelaufen zu sein.

Welche Erkenntnis können Anleger also aus dieser Börsenweisheit, aus Kostonalys Gleichnis von Mann und Hund gewinnen. „Zunächst einmal sollten sie sich vom ‚Vor und Zurück‘ der Märkte nicht irritieren lassen, sondern diese Bewegung als festen Bestandteil der Märkte akzeptieren“, sagt Telschow. Und noch etwas sollten Anleger bedenken: „Es sind bei weitem nicht nur wirtschaftliche Fundamentaldaten, die die Kursentwicklung beeinflussen“, so der Anlageexperte. „Fonds- beziehungsweise Aktienanleger investieren in Unternehmen, die sie genau unter die Lupe nehmen sollten. Und die Fundamentaldaten der Unternehmen müssen keinesfalls in Einklang mit den wirtschaftlichen Fundamentaldaten eines Marktes stehen.“ Marc Tüngler bringt es auf den Punkt: „Die Börsenweisheit verdeutlich vor allen Dingen, dass die Anleger Ruhe bewahren sollen, wenn der Kurs mal nach oben oder unten ausschlägt“, sagt der Anlegerschützer. „Anleger sollten sich vielmehr auf den inneren Wert ihrer Anlage konzentrieren und damit mehr auf die einzelnen Unternehmen, für die sie sich ja bewusst entschieden haben.“

Autorin: Jessica Schwarzer

Foto: Who is Danny / Shutterstock.com

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