Die grenzenlose Irrationalität der Börse – ein Gedankenexperiment

Bernd Schmid · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Wir stellen uns zwei Unternehmen und deren Entwicklung in den letzten Quartalen vor. Dann überlegen wir, was wir von den jeweiligen Aktienkursen erwarten würden. Am Ende werden wir einiges daraus lernen können.

Unternehmen A

Man stelle sich ein Unternehmen A vor. Es ist E-Commerce Marktführer in seiner speziellen Kategorie. Die Coronamaßnahmen im letzten Jahr gaben diesem Unternehmen einen starken Aufwind. Sein Geschäft wuchs im zweiten Quartal 2020 im hohen zweistelligen Bereich (sagen wir 84 %).

In den drei darauffolgenden Quartalen nahm das Wachstum ab, lag aber immer noch in jedem Quartal sehr gut im mittleren zweistelligen Bereich (sagen wir 49 % in Q1 2021).

Mit Spannung erwartet der Markt die Q2/2021-Ergebnisse. Er erwartet eine negative Umsatzentwicklung, einfach aufgrund des extrem positiven Vergleichszeitraums im Vorjahr.

In der Tat, der Umsatz sank um 10 % im Vergleich zum zweiten Quartal 2020. Das Wachstum über den Zweijahreszeitraum beträgt damit 66 % (Umsatz in Q2 2021 ist 66 % höher als im Q2 2019).

Unternehmen B

Nun stelle man sich ein Unternehmen B vor. Es ist der zweitgrößte E-Commerce-Akteur im Markt von Unternehmen A und profitierte ähnlich von den Coronamaßnahmen. Genau genommen sogar noch mehr: Es wuchs im zweiten Quartal 2020 sogar dreistellig (sagen wir 109 %).

Auch in den folgenden drei Quartalen stellt sich heraus, dass Unternehmen B weiterhin stark wächst - im dritten Quartal wieder dreistellig und in den darauffolgenden zwei Quartalen weiter im sehr hohen zweistelligen Bereich.

Anders gesagt: Unternehmen B hat über diesen Zeitraum relativ deutlich Marktanteile von Unternehmen A übernommen.

Auch hier wird mit Spannung das zweite Quartal 2021 erwartet. Es wird wie bei Unternehmen A ein relativ starker Umsatzrückgang erwartet.

Anders jedoch als bei Unternehmen A berichtet Unternehmen B sogar eine leicht positive Umsatzentwicklung (sagen wir von +4 %). Das bedeutet ein Wachstum über denselben Zweijahreszeitraum wie oben bei Unternehmen A von 117 %, also fast das doppelte.

Die Aktienkursentwicklung danach

Jetzt überlegen wir, wie sich die Aktienkurse dieser beiden Unternehmen nach diesen Nachrichten entwickeln könnten. Nehmen wir dafür an, dass eines der Unternehmen seine Ergebnisse rund eine Woche vor dem anderen veröffentlicht. Tag 0 sei der Tag vor dieser Veröffentlichung:

Screenshot, Chart oder sonstiges Schmuckbild

Kurz in Worten beschrieben: Das erste Unternehmen veröffentlicht seine Ergebnisse. Der Markt scheint enttäuscht, der Aktienkurs sinkt merklich. Die Nachricht scheint auch die Aktie des Wettbewerbs nach unten zu ziehen, sogar noch etwas stärker.

Fünf Handelstage später kommen die Ergebnisse des anderen Unternehmens. Die Veröffentlichung führt dazu, dass dessen Aktie stark ansteigt. Offensichtlich wurde der Markt positiv überrascht.

Zwei Wochen danach steht die Aktie dieses Unternehmens fast 5 % besser da als zum Zeitpunkt, bevor beide Unternehmen ihre Ergebnisse berichteten. Die Aktie des anderen Unternehmens steht fast 6 % schlechter da.

Welcher Aktienkurs gehört zu welchem Unternehmen? Klar, der dunkle muss zu Unternehmen B gehören. Immerhin überraschte es deutlich positiver. Wenn das für dich Sinn machen würde, dann geht es dir wie mir.

In der Realität muss das jedoch nicht so sein.

Eigentlich kommt dieses Beispiel sogar aus der Realität. Und es ist genau anders herum.

Es handelt sich bei Unternehmen A um Wayfair und bei Unternehmen B um Overstock, den großen E-Commerce-Akteuren rund um Möbel und die Ausstattung für das eigene Zuhause in den USA.

Bei der schlechter performenden Aktie handelt es sich um Overstock - dem Unternehmen, das stark Marktanteile gewann und das in Q2 2021 seinen Umsatz steigerte -, und bei der besser performenden um Wayfair - dem Unternehmen, das kontinuierlich Marktanteile verlor und das in Q2 2021 seinen Umsatz um 10 % zurückgehen sah.

Zugegeben, es könnten noch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben, die den Aktienkurs beeinflusst haben könnten. Zum Beispiel die Aussichten der Unternehmen und die Bewertung der jeweiligen Aktien.

Schauen wir uns diese Dinge an.

Es kommt noch besser …

Overstock gibt in der Regel keine Prognosen für die kommenden Quartale ab. Für Q3 2021 machte man eine Ausnahme, da man aufgrund der Urlaubssaison einen „leicht langsameren“ Start in das Quartal beobachtete als im Vorjahr mit einem bisherigen Rückgang der Verkäufe im Vergleich zum Start des Vorjahresquartals im einstelligen Bereich.

Das könnte die schwache Entwicklung der Aktie erklären.

Allerdings nicht im Vergleich zu Wayfair. Denn dessen Management verriet im Earnings Call: „Der Bruttoumsatz im bisherigen dritten Quartal ist im Vergleich zum Vorjahr im hohen Zehnerbereich gesunken.“

Offensichtlich fährt Overstock auch in Q3 damit fort, was man in den letzten fünf Quartalen schon getan hat: deutliche Marktanteile von Wayfair zu gewinnen.

Fundamental sehe ich auch nicht viel, was dagegenspricht. Die Produkte bei Overstock sind meines Wissens nach günstiger, trotz vergleichbarer (oder sogar identischer, da bin ich nicht 100 % sicher) Qualität. Und man bietet im Vergleich zu Wayfair kostenlose Lieferungen auf alle Produkte an. Außerdem hat Overstock im letzte Jahr im Gegensatz zu Wayfair einen Vertrag mit der US-Bundesbehörde „General Services Administration“ geschlossen, der zusätzliches Verkaufspotenzial für die kommenden Jahre bietet.

Das kann also die relative Aktienkursentwicklung dieser beiden nicht erklären.

… und noch besser

Ich muss zum Schluss kommen, daher gehe ich im Folgenden nicht sehr weit ins Detail. Es sei jedoch gesagt, dass es auch nicht an der Bewertung der Aktie liegt oder anderen fundamentalen Kennzahlen.

Overstock hat zum Beispiel Beteiligungen an einigen teilweise extrem vielversprechenden Blockchain-Unternehmen vorzuweisen. Wayfair hat das nicht. Trotzdem war der freie Cashflow gemessen am Umsatz bei Overstock in den letzten zwei Jahren höher als bei Wayfair. Und Overstock hat eine deutlich positive Nettocashposition, Wayfair eine negative.

Die aktuelle Bewertung der Aktien:

Overstock: 0,9x Umsatz

Wayfair: 2,1x Umsatz

Aus meiner Sicht ist es völlig abstrus, was dort am Markt passiert.

Was das alles bedeutet

Vor einigen Wochen habe ich am Beispiel HolidayCheck aufgezeigt, wie irrational der Markt oftmals ist. Das Beispiel Overstock vs. Wayfair zeigt das noch deutlicher.

Das kann als Investor sehr frustrierend sein. Zumindest geht es mir so. Vor allem, wenn sich eine solche Situation über Quartale und sogar Jahre hinweg zieht.

Das zeigt einmal mehr, wie wichtig Geduld ist beim Investieren. Eine Investitionsthese kann sich von Quartal zu Quartal bestätigen oder wie in diesem Fall sogar erhärten, und trotzdem kann sich der Aktienkurs schlecht entwickeln.

Es bedeutet auch, dass es Sinn macht, sich intensiver mit seinen Aktien zu beschäftigen. Investoren, auch langfristig orientierte, die sich nicht mit dem obigen Zahlenmaterial beschäftigen, neigen in solchen Situationen oftmals dazu, zu resignieren. Vermutlich passiert das gerade ob der schlechten Aktienkursentwicklung.

Allerdings verpasst man dann das Feuerwerk, wenn der Markt seine Irrationalität bemerkt.

Auf der anderen Seite: Wer weiß, wann das passiert. Im schlimmsten Fall kann es Jahre dauern - und im allerschlimmsten Fall kann in dieser Zeit etwas passieren, das die eigene Investitionsthese infrage stellt.

Offenlegung: Bernd besitzt Aktien von Overstock und die folgenden Optionen: long September ‘21 $60 Call auf Overstock, short August ‘21 $71 Call auf Overstock und short September ‘21 $70 Put auf Overstock. The Motley Fool empfiehlt Overstock und Wayfair.

Foto: Dragon Images/shutterstock.com

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