Nato sieht in Raketenbeschuss Polens keinen Bündnisfall

Reuters · Uhr
Quelle: (c) Copyright Thomson Reuters 2022. Click For Restrictions - https://agency.reuters.com/en/copyright.html

- von Alexander Ratz und Anna Wlodarczak-Semczuk

Brüssel/Warschau/Berlin (Reuters) - Die Nato macht Russland verantwortlich für den Raketen-Einschlag in Polen, sieht die Ursache darin aber in einem ukrainischen Querschläger.

Einen sogenannten Bündnisfall nach Artikel 5 sieht die Allianz demnach nicht, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer Dringlichkeitssitzung des Nato-Rats in Brüssel am Mittwoch mitteilte. "Wir haben keine Hinweise darauf, dass das ein beabsichtigter Angriff war", sagte Stoltenberg. "Aber was wir wissen ist, dass der wahre Grund für den Vorfall der russische Krieg in der Ukraine ist." Die Ermittlungen seien zwar noch nicht abgeschlossen. Es sei aber äußerst wahrscheinlich, dass eine ukrainische Luftabwehrrakete versehentlich auf polnischem Gebiet eingeschlagen sei.

"Das ist aber nicht die Schuld der Ukraine", betonte der Generalsekretär des westlichen Militärbündnisses. Er sei durchaus besorgt gewesen über den Vorfall am Dienstag. Es sei aber auch deutlich geworden, dass "die Nato bereit ist zu handeln in einer entschlossenen, ruhigen und resoluten Art". Details zu den Untersuchungen wollte Stoltenberg nicht nennen, etwa zur Frage, ob sich auch eine russische Rakete zum Zeitpunkt des Einschlags oder davor in der Nähe des Tatorts befunden habe. Der Vorfall zeige generell aber, dass der russische Angriffskrieg "gefährliche Situationen" schaffe. "Aber die Nato ist auf solche Vorfälle vorbereitet", betonte der Generalsekretär.

Die Allianz sei auch in der Lage, mit russischen Vertretern zu kommunizieren, ergänzte Stoltenberg, ohne auch hier konkreter werden zu wollen. Der Raketeneinschlag im Gebiet des Nato-Staats Polen löste zunächst Befürchtungen eines sogenannten Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nato-Vertrags aus. Danach sieht sich die gesamte Allianz angegriffen, wenn nur eines der 30 Mitgliedstaaten betroffen ist. Zunächst war spekuliert worden, dass Polen Artikel 4 aktivieren könnte, der engere Konsultationen der Mitglieder der Militärallianz vorsieht, wenn die Sicherheit eines von ihnen bedroht ist. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte aber am Mittwochmorgen, er halte dies nicht für erforderlich.

BUNDESREGIERUNG BIETET HILFE BEI LUFTÜBERWACHUNG AN

Präsident Andrzej Duda sagte bei einer Pressekonferenz mit Morawiecki in Warschau, es gebe keinen Beweis für einen absichtlichen Angriff auf sein Land. Die im Osten niedergegangene Rakete sei vom Sowjet-Typ S-300 und in Russland hergestellt worden. Es gebe aber keinen Hinweis darauf, dass sie auch von dort abgefeuert worden sei. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die Rakete von der ukrainischen Luftabwehr eingesetzt worden und versehentlich auf polnischem Gebiet eingeschlagen sei. Vermutlich handele es sich um einen unglücklichen Zwischenfall. Bei dem Einschlag in einem Getreidedepot in der Nähe der ukrainischen Grenze wurden zwei Menschen getötet.

Die Bundesregierung äußerte sich schockiert über den Vorfall. Kanzler Olaf Scholz habe Duda sein Beileid übermittelt, sagte ein Regierungssprecher in Berlin. Ein Sprecher des Verteidigungsminsteriums sagte, die Bundesregierung biete Polen Hilfe bei der Luftraumüberwachung an. Man stehe mit der polnischen Regierung in Austausch über ein verstärktes sogenanntes Airpolicing. Man werde zusammen mit der Ukraine und Nato-Partnern zudem prüfen, welche Konsequenzen der Vorfall für die militärische Ausrüstung der Ukraine habe, sagte der Regierungssprecher ergänzend. Zudem werde besprochen, ob es nach den heftigen russischen Raketenangriffen auf Infrastruktur in der Ukraine am Dienstag weitere deutsche Hilfen für das Land geben könne.

"ABSOLUT HYSTERISCHE REAKTION"

Die Ukraine machte die Regierung in Moskau für den Zwischenfall verantwortlich. Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte, es müsse festgehalten werden, dass der Krieg von Russland begonnen worden sei und von Russland geführt werde. "Russland hat den östlichen Teil des europäischen Kontinents in ein unberechenbares Schlachtfeld verwandelt", erklärte er. "Und anders sind Zwischenfälle mit Raketen nicht zu erklären." Russland selbst wies die Verantwortung zurück. Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow sprach von "russophoben" Vorwürfen. Er lobte die Reaktion von US-Präsident Joe Biden, mit der dieser "im Gegensatz zu der absolut hysterischen Reaktion der polnischen Seite und einer Reihe anderer Länder steht".

Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, es handele sich um eine ukrainische Luftabwehrrakete: "Die am Abend des 15. November in Polen veröffentlichten Fotos der im Dorf Przewodow gefundenen Trümmer werden von Spezialisten der russischen Rüstungsindustrie eindeutig als Elemente einer Flugabwehrlenkwaffe des Luftverteidigungssystems S-300 der ukrainischen Luftwaffe identifiziert." Russland hatte am Dienstag Dutzende Raketen auf Ziele in der Ukraine gefeuert. Betroffen waren zahlreiche Städte, darunter Lwiw im Westen des Landes sowie die Hauptstadt Kiew. Der Beschuss galt als Reaktion darauf, dass die russischen Streitkräfte am Boden zunehmend in die Defensive geraten. Dies gilt vor allem für den Süden der Ukraine im Gebiet der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Region Cherson.

(Mitarbeit: Sabine Ehrhardt, Sabine Siebold, Andreas Rinke, Reuters-Büros; Redigiert von Hans Busemann; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

Meistgelesene Artikel