ROUNDUP 2/'Schwarzbrot statt Zuckerguss': Sind wir beim Wohnen zu anspruchsvoll?

dpa-AFX · Uhr

(neu: Statements)

BERLIN (dpa-AFX) - Keine Keller, weniger Balkone, dünnere Decken: Einfachere Wohnungen könnten aus Sicht der Baubranche den Wohnungsbau in Deutschland wieder in Schwung bringen. Aktuell werde oft unnötigerweise Goldstandard gebaut - zu hohen Kosten, so dass die Wohnungen für Verbraucher dann kaum noch bezahlbar seien, erklärten sieben Wohnungsbauverbände am Donnerstag in Berlin. Angesichts der dramatischen Krise im Wohnungsbau forderte das Verbändebündnis die Politik auf, ihre Standards infrage zu stellen.

Staatliche Förderung sei im Moment ausgerichtet an teurem Bauen mit hohen Effizienzstandards, kritisierte der Präsident des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Axel Gedaschko. Nötig sei aber "nicht Zuckerguss fördern, sondern das bezahlbare Schwarzbrot". Aktuell sei Neubau weder für den Bauherren noch für die künftigen Mieterinnen und Mieter bezahlbar - deshalb entstünden in Deutschland nicht genügend neue Wohnungen.

Dramatische Einbrüche im Wohnungsbau erwartet

Tatsächlich steckt der Wohnungsbau in einer Krise: Bundesweit fehlen Hunderttausende Wohnungen - zugleich brechen die Baugenehmigungen ein. Laut Wirtschaftsministerium gingen die Wohnungsbaugenehmigungen im vergangenen Jahr um mehr als ein Viertel zurück. Das liegt laut einer aktuellen Studie des Bauforschungsinstituts Arge unter anderem daran, dass die Baukosten in den letzten vier Jahren in Großstädten um ganze 42 Prozent gestiegen sind. Gleichzeitig zogen die Bauzinsen an.

Nach einer Prognose des Forschungsnetzwerks Euroconstruct dürften 2026 in Deutschland 175 000 Wohneinheiten fertiggestellt werden - 95 000 weniger als 2023 und weit entfernt vom Ziel der Bundesregierung von 400 000 Wohnungen im Jahr. Inzwischen fehlen in Deutschland laut Arge etwa 800 000 Wohnungen - vor allem bezahlbare.

Überhohe Standards bei Schallschutz und Energieeffizienz?

Hauptproblem seien viel zu hohen Baukosten, sagte der Präsident des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen, Dirk Salewski. In Zeiten niedriger Zinsen habe man sich in Deutschland daran gewöhnt, "ganz viel Zuckerguss zu bauen, den nun wirklich kein Mensch braucht".

"Davon müssen wir runterkommen dürfen", forderte der Präsident des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe, Wolfgang Schubert-Raab. Beispiel Schallschutz: Aktuell würden mit viel Stahl 22 Zentimeter dicke Decken gebaut - doch auch 18 Zentimeter reichten völlig aus.

Kein Fahrstuhl, keine Balkone, das spare viel Geld, betonte Gedaschko. Barrierefreie Wohnungen könne man im Erdgeschoss anbieten. Aber in vielen Städten bekämen Wohnungsunternehmen so keine Baugenehmigung.

Arge-Studienleiter Dietmar Walberg betonte, niedrigere Anforderungen bedeute nicht, dass man in den Wohnungen nicht mehr gut leben könne. Selbst wenn nur die Mindestanforderungen an Energieeffizienz erfüllt würden, wohne man nicht ungedämmt, sondern habe noch immer einen europaweit einzigartigen Standard. Zugleich bringe es keine zusätzliche Energieeinsparung, wenn man aus 16 Zentimeter Dämmung 25 Zentimeter mache.

Die vom Verbändebündnis Wohnungsbau in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass der überwiegende Teil der aktuellen baulichen Standards im Wohnungsbau "sowohl ökonomisch, in Bezug auf einen allgemeinen, angemessenen und guten Wohnstandard und auf tatsächlich wirksamen Klimaschutz hin verzichtbar" ist. "Vieles wird mit High-End-Standards gebaut, weil es sonst keine Förderung gibt", erläuterte Walberg.

Neuer Gebäudetyp mit reduzierten Vorschriften geplant

Bauministerin Klara Geywitz erklärte, ein neuer Gebäudetyp mit reduzierten Vorschriften sei bereits in Arbeit. Aktuell "steht jedes Mal ein Mercedes auf der Baustelle, wenn wir ein Haus bauen", sagte die SPD-Politikerin. "Und viele dieser Vorschriften sind nicht notwendig, um ein gutes und um ein sicheres Haus zu bauen." So sei es zum Beispiel nicht sinnvoll, im sozialen Wohnungsbau Tiefgaragen zu verlangen, obwohl man wisse, "dass die dann wahrscheinlich halb leer stehen". Auch serieller und modularer Bau könne die Kosten senken.

Wirtschaftsfaktor Wohnungsbau

Die Krise im Wohnungsbau sorgt nicht nur für einen Mangel an bezahlbarem Wohnraum - sie könnte einer zweiten Studie zufolge auch die gesamte deutsche Wirtschaft hart treffen.

Die Branche sei volkswirtschaftlich gesehen fast so bedeutend wie die Automobilwirtschaft, ermittelte die Beratungsfirma DIW Econ im Auftrag des Verbändebündnisses Wohnungsbau. Der erwartete Rückgang beim Wohnungsbau um fünf Prozent werde allein in diesem Jahr daher schon zu Steuermindereinnahmen von etwa fünf Milliarden Euro führen. Auch Arbeitsplätze könnten verloren gehen.

Die Branchenverbände warten vor einer "fatalen Entwicklung, bei der die Krise im Wohnungsbau einen Dominoeffekt und damit massiven Schaden für weite Teile der Wirtschaft auszulösen droht". Laut DIW Econ, einem Tochterunternehmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hat jeder siebte Euro der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung direkt oder indirekt mit dem Wohnungsbau zu tun. Auch rund jeder siebte Arbeitsplatz und 17 Prozent der Steuereinnahmen stünden mit dieser Branche in Verbindung.

Der Wohnungsbau sei eine soziale, aber auch eine ökonomische Säule des Landes, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). "Ohne eine Wohnungswirtschaft im Aufschwung oder unter Last kann kein ökonomischer Aufschwung gelingen", betonte er.

Sonderförderung gefordert

Das Verbändebündnis, in dem sich neben dem Deutschen Mieterbund und der IG BAU Verbände der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft sowie der Mauerstein-Industrie und des Baustoff-Fachhandels zusammengeschlossen haben, forderte Bundes- und Landespolitik deshalb zum Handeln auf. Die Branche stecke in einer tiefen Krise und müsse mit einer sofortigen Sonderförderung unterstützt werden. Konkret würden jährlich Subventionen in Höhe von 23 Milliarden Euro benötigt, für 100 000 neue Sozialwohnungen und den Neubau von 60 000 bezahlbaren Wohnungen./tam/DP/ngu

Neueste exklusive Artikel