Börsenweisheit von Warren Buffett: „Seid gierig, wenn alle ängstlich sind.“
Die Stimmung an der Börse ist schlecht. Die Kurse sind seit Wochen auf Talfahrt, jeder Erholungsversuch wird im Keim erstickt. Der Dax hat von seinem Hoch im Frühjahr mehr als 20 Prozent verloren, ist damit in einen Bärenmarkt gerutscht. An der Wall Street sieht es nicht ganz so düster aus, aber auch dort sind die Verluste zweistellig. Die jüngste Zinserhöhung der Fed hat den Kursrutsch weiter beschleunigt. Die Angst vor einem sich ausweitenden Handelskrieg zwischen USA und China sowie die Sorgen um die Weltkonjunktur sind allgegenwärtig. Positive Nachrichten verpuffen. Die Angst vor dem Crash ist groß.
Aber Angst ist an der Börse selten ein guter Ratgeber. Oder um es mit Warren Buffett zu sagen: „ Seid gierig, wenn alle ängstlich sind. Seid ängstlich, wenn alle gierig sind.“ Der amerikanische Superinvestor hat bekanntlich ein sehr gutes Händchen bei seinen Investments und ist so zu einem der reichsten Menschen der Welt geworden. Aber stimmt seine alte Börsenweisheit von Gier und Angst heute überhaupt noch? Der Spruch ist schließlich schon viele Jahre alt.
Reinhard Panse, Chief Investment Officer des unabhängigen Multi Family Offices HQ Trust ist überzeugt, das die Börsenweisheit heute mehr denn je stimmt, „da sich inzwischen extrem viele Anleger an Benchmarks orientieren und schon kurzfristige Abweichungen fürchten.“ Da kaum noch jemand langfristig investiere, würden die Chancen derer wachsen, die es dennoch tun. Diese Börsenweisheit lasse sich allerdings nicht verallgemeinern, meint hingegen Andreas Telschow. „Doch ein Stück Wahrheit steckt darin“, sagt der Anlageexperte von Fidelity International. „Fakt ist, dass viele Anleger in Stressphasen nicht rational handeln, sondern sich eher von ihren Gefühlen leiten lassen.“
Sie neigen häufig dazu, sich so zu verhalten wie die breite Masse: Sie tendieren zum Kauf, wenn das Kursniveau am höchsten ist, und zum Verkauf, wenn das Kursniveau am niedrigsten ist. Wichtig ist es jedoch, beim Investieren einen kühlen Kopf zu bewahren und nie überstürzt zu handeln. Anleger sollten stets die Ursachen und Gründe der Schwankungen hinterfragen und ihre Langfristplanung nicht durch zwischenzeitliche Kursrücksetzer einfach über Bord werfen, so Telschow.
Und wie sieht es in der aktuellen Situation aus? Gier kann man Investoren wohl kaum unterstellen, Angst haben hingegen viele – und verkaufen prozyklisch. Es könne sich durchaus lohnen, im aktuellen Umfeld eher gierig zu sein, meint Panse. „Die Bewertung von Aktien ist unterdurchschnittlich, die Erwartungen der Anleger sind negativ - wegen Themen wie dem Brexit, Italien oder dem drohenden Handelskrieg“, sagt er. Zudem würden die hohen Schuldenberge dafür sorgen, dass die Zinsen kaum steigen könnten. Daher würden Aktien in fast allen Regionen ordentliche Ertragschancen bieten. Fidelity-Experte Telschow empfiehlt den Blick auf einzelne Unternehmen. „Die Renditeerwartungen sind aktuell überschaubar, das Kurspotenzial in der Breite ist begrenzt“, gibt er zu Bedenken. „Deshalb ist ein selektiver Blick auf die Märkte beziehungsweise die einzelnen Unternehmen wichtig.“ Als Anlagestrategie könne es sich deshalb lohnen, bei Kursrücksetzern aussichtsreiche Titel zuzukaufen. „Das sind vor allem Unternehmen hoher Qualität mit guten Fundamentaldaten: nachhaltigen Cashflows und stabiler Gewinnentwicklung“, sagt der Anlage-Experte. Börsianer sollten also durchaus gierig sein, wenn andere ängstlich sind.
An den Märkten aber wachsen derzeit vor allem die Sorgen und die Angst, dass eine Rezession bevorsteht und die jahrelange Rally endet. Was erwarten die Profis? „Natürlich stellt sich nach einer Dekade Bullenmarkt die Frage, was 2019 bringen wird“, sagt Telschow. Wohin steuert US-Präsident Donald Trump, wie entwickeln sich die Zinsen, droht gar die viel beschworene Rezession? „Ich denke, es ist unwahrscheinlich, dass sich die vorherige sehr zyklische Rally weiter fortsetzen wird.“ Seine Prognose: „2019 dürfte sich an den Anlagemärkten die Spreu vom Weizen trennen.“ Positive Wachstumsüberraschungen könnten vor allem aus Europa, Asien und den Schwellenländern kommen – hier haben sich die Erwartungen zuletzt deutlich abgeschwächt. „Hier erwarten wir insbesondere eine Renaissance von defensiven Quality-Growth-Titeln“, so Telschow. Das heißt: Es dürften in erster Linie wieder Unternehmen das Geschehen an den Börsen bestimmen, die gute Fundamentaldaten aufweisen. „Ein schwächerer Dollar und ein weiter sinkender Ölpreis sollten zusätzliche Impulse bringen“, ergänzt er.
Einen Crash erwarten die Experten nicht. Vielmehr sollte das Schlimmste schon überstanden sein. Viele Aktien sind sehr günstig bewertet. „Der deutsche Aktienmarkt ist ähnlich bewertet wie während des ersten Irak-Krieges im Herbst 1990, nach dem Zusammenbruch des europäischen Währungssystems im Herbst 1992 oder während des zweiten Irak-Krieges im Frühjahr 2003“, sagt Panse. „Selbst wenn etwas - ein Thema wie Brexit, Italien oder der Handelskrieg - schief geht und eine Rezession auslöst, sollten Aktien kaum noch fallen und nach den dann einsetzenden Rettungsaktionen der Notenbanken kräftig steigen können.“ Ein weiteres Argument für ein bisschen Gier.
Von Jessica Schwarzer
Bild: Krista Kennell / Shutterstock.com