Kutzers Zwischenruf: Anleger, setzt lieber das Fernglas auf!

Hermann Kutzer · Uhr (aktualisiert: Uhr)

Börsenbriefe, Tippdienste und andere Medien tun oft so, als wüssten sie wie’s weitergeht (keine Kritik, ist ja ihr Job). Und die professionellen Vermögensverwalter sind schon jetzt dabei, ihre Vorhersagen fürs neue Jahr zu korrigieren. Da fragen sich Anleger nicht nur, wem sie vertrauen können, sondern auch, ob kurz- oder längerfristige Aussagen als Orientierungshilfen zuverlässiger sind. Ich empfehle in diesem spannenden Jahr vor allem den weiten Blick. Denn ist klingt plausibel, wenn die große Mehrheit der Propheten ihre Skepsis für die nächsten Wochen und Monate äußert, dann aber voller Zuversicht über das zweite Halbjahr spricht.

Gründe für die zeitliche Differenzierung liefert unter anderem die DekaBank in einer aktualisierten Vorschau: Bei aller Vorsicht hinsichtlich der neuen Einschätzungen dürfte eine höhere Schwankungsanfälligkeit an den Märkten als vergleichsweise gesichert angesehen werden. Man sollte die Effekte der geldpolitischen Straffung in ihrer Abfolge nicht unterschätzen. Es kann gerade in der ersten Hälfte 2022 durchaus ruckeliger zugehen. Die Corona-bedingten Belastungen mit rückläufigen Konjunkturindikatoren und einem schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt in vielen europäischen Volkswirtschaften sind dabei leider unschön schmückendes Beiwerk. Was freilich bleibt, sind die nach wie vor hinreichend guten Perspektiven für Unternehmen für den weiteren Jahresverlauf 2022. Die Umsatz- und Gewinnaussichten sind intakt. Die geldpolitische Straffung wird vor allem an den deutlich überbewerteten Tech-Werten, vornehmlich aus den USA, nicht spurlos vorübergehen. Gerade die Aktienmärkte in Europa und in den Emerging Markets dürften aber auch in 2022 wieder sehr gut performen, glauben die Deka-Strategen.

Die Vermögensverwalter von Global X sehen Signale dafür, dass Europa kurz davorsteht, den Zustand der Pandemie zu verlassen. Europäische Aktien dürften von den besseren Wachstumsaussichten in der Region im Vergleich zu den USA profitieren, die ihren Höhepunkt erreicht haben könnten - und sind zudem im Vergleich zu ihren US-Pendants attraktiv bewertet. Außerdem wird erwartet, dass die EZB ihre Geldpolitik angesichts des moderateren Inflationsdrucks in der Eurozone und der verbleibenden Flaute auf dem europäischen Arbeitsmarkt nicht so schnell straffen wird wie in den Vereinigten Staaten.

Das DZ Bank Research blickt weiterhin optimistisch auf das Aktienjahr 2022, passt jedoch das Dax-Indexziel zur Jahresmitte von 17.500 auf 17.000 Punkte an. Nach Wachstumseinbußen im Winterhalbjahr werden weiterhin Nachholeffekte erwartet - Zykliker sollten davon profitieren. Die Analysten sehen aktuell zwei Hauptrisiken für den Aktienmarkt: Corona-Pessimismus ist in den Kursen zwar schon eingepreist - weitere Meldungen sorgen jedoch für zusätzliche Volatilität. Außerdem könnte eine weiterhin ausufernde US-Inflation könnte zu einer unerwartet drastischen Umsetzung der Zinswende führen. Dies birgt ein signifikantes Abwärtsrisiko für ambitionierte Aktienbewertungen.

Bemerkenswert ist nach den jüngsten Differenzierungen, dass die Community voll gespalten ist, wenn es um den zu favorisierenden Unternehmenstyp geht - Value oder Growth? Internationale Asset Manager sprechen sich zunehmend für Investments in defensive, eher unterbewertete Value-Aktien aus. Doch fehlt es auch nicht an Experten, die angesichts der erwarteten Konjunkturbeschleunigung ab der zweiten Jahreshälfte auf relativ teure Growth-Werte setzen. Mein Vorschlag, geschätzte Anleger: Mischen Sie doch Aktien aus beiden Lagern! Und erwarten Sie nicht viel von der Börse (außer Volatilität) bis sich der Horizont aufhellt.

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