Tödlicher Anschlag auf Japans einflussreichen Ex-Premier Abe

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- von Satoshi Sugiyama und Chang-Ran Kim

Nara (Reuters) - Japans einflussreicher ehemaliger Ministerpräsident Shinzo Abe ist bei einem Wahlkampfauftritt auf offener Straße erschossen worden.

Der 67-Jährige wurde mehr als fünf Stunden nach der Tat vor einem Bahnhof in der Stadt Nara für tot erklärt. Vor Ort überwältigte die Polizei einen 41-jährigen Mann, der nach ihren Angaben eine selbstgebaute Schusswaffe benutzte. Ein politisches Motiv sei nicht zu erkennen, hieß es am Freitag. Vielmehr habe der mutmaßliche Tatverdächtige einen Groll gegen eine "bestimmte Organisation" gehegt und Abe als Mitglied gesehen. Es sei nicht klar, ob diese Organisation überhaupt existiere. Politiker im In- und Ausland zeigten sich entsetzt über die Tat in einem Land, in dem Gewalt gegen Politiker fast unbekannt ist.

Nach Angaben von Ärzten des Universitätskrankenhauses Nara verblutete Abe nach tiefen Wunden am Hals und an seinem Herzen. Über vier Stunden hinweg seien mehr als 100 Blutkonserven verabreicht worden, sagte der leitende Notfallarzt Hidetada Fukushima. Augenzeugen hatten von zwei Schüssen berichtet. Bei dem Täter soll es sich der Polizei zufolge um einen ehemaligen Militärangehörigen aus Nara handeln, der offenbar arbeitslos sei. Es werde geprüft, ob er allein gehandelt habe.

KISHIDA: "ABSOLUT UNVERZEIHLICH"

Ministerpräsident Fumio Kishida, ein Schützling Abes, rang in ersten Stellungnahmen sichtlich um Fassung. "Dieser Angriff ist ein Akt der Brutalität, der während der Wahlen - der Grundlage unserer Demokratie - verübt wurde und absolut unverzeihlich ist", sagte er. Seine Liberaldemokratische Partei (LDP) werde am Samstag ihren Wahlkampf fortsetzen, um ihre Entschlossenheit zu zeigen, dass man niemals der Gewalt nachgeben und "um jeden Preis" freie und faire Wahlen verteidigen werde. US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz sowie Vertreter Chinas, Russlands und zahlreichen weiteren Staaten zeigten sich bestürzt.

Japan gilt mit seinen strengen Waffengesetzen als eines der sichersten Länder der Welt. Airo Hino, Politikwissenschaftler an der Waseda-Universität, sagte, eine solche Tat sei in Japan beispiellos: "So etwas hat es noch nie gegeben." 2007 war der Bürgermeister von Nagasaki Iccho Itoh von einem Yakuza-Gangster erschossen worden. 1960 wurde der damalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei Japans Inejiro Asanuma während einer Rede von einem rechtsgerichteten Jugendlichen mit einem Samurai-Kurzschwert getötet. In der Nachkriegszeit wurden weitere prominente Politiker angegriffen, aber nicht verletzt.

"ABENOMICS" ALS NEUE WIRTSCHAFTSPOLITIK

Abe war der am längsten amtierende Ministerpräsident Japans. Auch nach seinem Rücktritt 2020 war in der regierenden LDP eine prägende Kraft und kontrollierte eine ihrer wichtigsten Fraktionen. Kishida hatte gehofft, die Oberhauswahl am Sonntag nutzen zu können, um aus dem Schatten seines Mentors herauszutreten, erklärten Analysten. Abe trat sein Amt erstmals 2006 als jüngster Ministerpräsident seit dem Zweiten Weltkrieg an. Nach einem Jahr politischer Skandale hörte er unter Berufung auf seine schlechte Gesundheit auf. 2012 wurde er dann erneut Regierungschef. Mit den nach ihm benannten "Abenomics" krempelte Abe das Land um. Durch die aktive Wirtschaftsförderung aus lockerer Geldpolitik, hohen Staatsausgaben und Reformen gelang es Japan, ab 2012 die Wirtschaft anzukurbeln. Doch die Corona-Krise machte die Erfolge zunichte.

In Abes Amtszeit fiel auch eine tiefgreifende Änderung der Außen- und Sicherheitspolitik. So erhöhte er die Ausgaben für Verteidigung. 2014 legte seine Regierung die Verfassung neu aus, so dass japanische Truppen erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg an Auslandseinsätzen teilnehmen konnten. Ein Jahr später wurden Gesetze verabschiedet, die ein Verbot der Ausübung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung oder der Verteidigung eines angegriffenen befreundeten Landes aufheben. Der Kurswechsel stieß jedoch in der Bevölkerung auch auf Kritik. Auch wegen seines Umgangs mit dem Coronavirus wurde Abe kritisiert.

(Reuters-Büro Tokio, geschrieben von Elke Ahlswede, Anneli Palmen und Scot W. Stevenson; redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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