OTS: Börsen-Zeitung / Ohne Sentimentalität, Kommentar zu Linde von Joachim Herr

dpa-AFX · Uhr
    Ohne Sentimentalität, Kommentar zu Linde von Joachim Herr
Frankfurt (ots) - Das ist ein harter Schlag für den Finanzplatz Frankfurt. Linde
bereitet sich darauf vor, die deutsche Börse zu verlassen. Der
Industriegasekonzern ist mit seiner Marktkapitalisierung das mit Abstand am
höchsten bewertete Unternehmen im Dax. Nur SAP übertrifft ebenfalls die Schwelle
von 100 Mrd. Euro, liegt aber klar zurück.

Wem die deutsche Unternehmens- und Börsentradition wichtig ist, der bedauert den
Schritt. Im Juni 1879 war die Gesellschaft für Linde's Eismaschinen
Aktiengesellschaft in Wiesbaden gegründet worden. Dem Dax gehört das Unternehmen
seit dem Start am 1. Juli 1988 an. Nach dem Zusammenschluss der Linde AG mit dem
US-amerikanischen Konkurrenten Praxair vor vier Jahren zeichnete sich rasch und
wie erwartet die Amerikanisierung des neuen Weltmarktführers in der
Industriegasebranche ab.

Das damalige Management mit CEO Steve Angel steigerte von Anfang an und stetig
die Effizienz und Rendite des deutschen Konzernteils und richtete das neue
Unternehmen wie zuvor Praxair kompromisslos auf Shareholder Value und
Shareholder Return aus. Und das mit Erfolg. Das Kalkül des früheren Linde-Chefs
und späteren Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsvorsitzenden Wolfgang Reitzle
ging auf. Für eine mit Nostalgie verklärte deutsche Industrietradition war kein
Platz mehr.

Das hat sich mit den Führungswechseln in diesem Frühjahr nicht geändert: Reitzle
zog sich wie von Anfang an geplant zurück, seinen Posten übernahm Angel, CEO ist
jetzt der Inder Sanjiv Lamba, der früher im Vorstand der Linde AG fürs
Gasegeschäft in Asien verantwortlich war.

Der Rückzug von der Frankfurter Börse ist mit Blick auf die strikte Ausrichtung,
ohne jegliche Sentimentalität, auf die Aktionärsrendite konsequent. Die Regeln
für den Dax engen den Spielraum für Kurszuwächse der Linde-Aktie ein. Das
Management räumt, wo es geht, alle Hindernisse zur Seite - also auch die
Börsennotierung in Deutschland. Was angloamerikanischen Investoren, die die
Mehrheit der Linde-Aktionäre ausmachen, nicht vermittelt werden kann, muss weg.

Der amerikanische Stil der Linde-Manager wirkt kühl und emotionslos. An einem
Milliardenauftrag von Gazprom hielten sie trotz des Angriffs Russlands auf die
Ukraine zunächst fest und argumentierten mit Vertragsverpflichtungen. Erst die
Sanktionen der EU und der USA erzwangen eine Umkehr. Und dass Konzernchef Lamba
nun beteuert, Deutschland werde für Linde ein wichtiger Markt bleiben, klingt
bizarr bis sarkastisch. Immerhin ist es der größte Markt in der EU.

Aus Sicht der Aktionäre - und freilich auch für die Managergehälter - lohnt sich
der Fokus auf Effizienz, Rendite und Shareholder Return. Bezeichnend ist die
Stellungnahme von Union Investment zum Rückzug von der Frankfurter Börse. Dafür
könne Linde nicht kritisiert werden. In einer Mischung aus Verständnis und
Bewunderung attestiert die Fondsgesellschaft dem Unternehmen, mit der Bewertung
den anderen Mitgliedern im Dax weit enteilt zu sein.

Trotz der Amerikanisierung ist der bevorstehende Abschied von Linde ein Verlust
für den Börsenplatz Deutschland. Denn was wäre eine Finanz- und Industriekultur
ohne Traditionen?

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