Finanzexperten zur ersten EZB-Zinssenkung seit 2019

Berlin/Frankfurt (Reuters) - Die Europäische Zentralbank (EZB) beschließt die Kurswende und senkt erstmals seit fast fünf Jahren die Zinsen.
Die Währungshüter um Notenbankpräsidentin Christine Lagarde kappten den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent, wie die EZB am Donnerstag in Frankfurt mitteilte. Den am Finanzmarkt maßgeblichen Einlagensatz, den Banken für das Parken von Geld bei der Zentralbank erhalten, senkte sie auf 3,75 Prozent von bisher 4,00 Prozent. Letztmalig hatte die Notenbank im September 2019 die Zinsen gesenkt.
Ökonomen und Finanzexperten sagten dazu in ersten Reaktionen:
MORITZ SCHULARICK, PRÄSIDENT IFW-INSTITUT KIEL:
"Die Senkung des Leitzinses läutet die Zinswende in Europa ein und stellt damit auch die Weichen für die konjunkturelle Erholung der deutschen Wirtschaft. Anders als in der Vergangenheit ist zur Zeit vor allem die deutsche Wirtschaft auf niedrigere Zinsen angewiesen, während andere Euroländer mit dem bisherigen Zinsniveau besser zurechtgekommen sind. Weitere Zinsschritte sind im zweiten Halbjahr zu erwarten, da der geldpolitische Kurs der EZB auch nach der Zinssenkung restriktiv sein dürfte. Von den verbesserten Finanzierungskonditionen werden Verbraucher, Unternehmen und insbesondere der Bausektor profitieren. Der deutschen Immobilienmarkt hat im Jahr 2023 den stärksten Preiseinbruch seit 60 Jahren verzeichnet, wie es der Preisindex Greix des IfW Kiel zeigt. Die Zinswende ist auch ein Hoffnungsschimmer für den deutschen Immobilienmarkt."
STEFAN KÖRZELL, DGB-VORSTANDSMITGLIED:
"Die heute eingeleitete Zinswende der Europäischen Zentralbank ist längst überfällig. Die hohen Zinsen belasten die Konjunktur und hemmen die Investitionstätigkeit in Deutschland und der Eurozone. Die Befürchtung der EZB, die Löhne könnten die Preise treiben, war von Anfang an unbegründet und ist es nach wie vor. Dank der guten Tarifabschlüsse der letzten Monate steigen die Löhne der Beschäftigten ordentlich. Das ist angesichts von deutlichen Reallohnverlusten in den letzten Jahren allerdings auch notwendig und von den Unternehmen ohne weiteres finanzierbar, ohne dass diese zusätzlich die Preise anheben müssen. Die wirtschaftlichen Aussichten sind in der Eurozone außerdem deutlich düsterer als in den USA, weitere Zinssenkungen sollten deshalb zügig folgen."
SILKE TOBER, GEWERKSCHAFTSNAHES IMK-INSTITUT:
"Die Zinssenkung der EZB auf 3,75 Prozent ist richtig und überfällig. Weitere Schritte sollten zügig folgen, denn die Geldpolitik wirkt weiter stark restriktiv und schwächt die dringend erforderliche Investitionstätigkeit. Die Inflation ist auch aus Sicht der EZB unter Kontrolle und dürfte im kommenden Jahr sehr nah am Inflationsziel von zwei Prozent liegen. Für Ende 2024 erwarte ich einen Leitzins von drei Prozent. Das wäre immer noch restriktiv und angesichts der Wirkungsverzögerungen der Geldpolitik zu hoch."
ULRICH REUTER, SPARKASSENPRÄSIDENT (DSGV):
"Es war richtig, den bereits signalisierten und an den Märkten erwarteten Zinsschritt zu vollziehen. Damit nutzt die EZB den Spielraum aus der Preisentwicklung, den sie hat, um die Bremse für die Wirtschaft jetzt ein wenig zu lockern. Allerdings sind die letzten Meter bei der Inflationsbekämpfung die schwierigsten. Vorsicht bleibt geboten. Das schlimmste Szenario wäre ein erneuter Anstieg der Inflation, der die EZB zwingen würde, zu weitgehende Zinssenkungen zurückzunehmen. Das würde Vertrauen und Berechenbarkeit beschädigen."
ULRICH KATER, CHEFVOLKSWIRT DEKABANK:
"Mit dieser Zinssenkung setzt die EZB die Alarmstufe bei der Inflation um einen Schritt herunter. Angesichts der deutlichen Beruhigung des Inflationsgeschehens ist das gerechtfertigt. Aber der Zinsschritt ist auch ein Wechsel auf die Zukunft: Noch ist das Inflationsziel nicht erreicht. Und es kann gut sein, dass eine hartnäckige Restinflation weitere Zinssenkungen in den kommenden Quartalen sehr schwierig gestalten wird."
HEINER HERKENHOFF, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER BANKENVERBAND BDB:
"Die europäischen Währungshüter sind bei der Bekämpfung der Inflationsgefahren noch lange nicht am Ziel. Preistreiber bleiben die überdurchschnittlich steigenden Löhne im Dienstleistungssektor. Und perspektivisch könnte auch ein fallender Euro-Wechselkurs für steigende Inflation sorgen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die EZB erst gar nicht die Erwartung einer dichten Abfolge von Zinssenkungen aufkommen lässt. Es gibt keinen Autopiloten für weitere Zinssenkungen. Für die nächsten EZB-Sitzungen muss gelten, dass weitere Schritte nur möglich sind, wenn erkennbar die Inflationsrisiken weiter zurückgehen. Dies gilt insbesondere für die Ratssitzung im September, auch wenn die Mehrheit der Marktteilnehmer derzeit dort die nächste Zinssenkung erwartet."
FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW INSTITUT:
"Diese erste Zinssenkung war durch die EZB-Kommunikation exzellent vorbereitet und geldpolitisch gut begründbar. Negativ überrascht hat zuletzt allerdings die Hartnäckigkeit der Inflation. Sowohl bei den Löhnen als auch bei der Kerninflation liegen die Raten immer noch deutlich über der Zielmarke der EZB von zwei Prozent. Der EZB-Rat sollte sich jetzt mit vorschnellen Ankündigungen weiterer rascher Zinssenkungen zurückhalten. Sonst tappt er in eine kommunikative Falle, die er sich selbst stellt. Auch darf die EZB angesichts der zunehmenden Verschuldungsprobleme wichtiger Euro-Staaten und der jüngsten Herabstufung des Frankreich-Ratings nicht den Eindruck erwecken, dass ihr die Finanzierbarkeit der Staatsverschuldung wichtiger sei als die Preisstabilität. Aus heutiger Sicht sind daher ein bis zwei weitere Zinssenkungen das Maximum, was für dieses Jahr zu verantworten ist."
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFÖKONOM:
"Ich halte es für verfrüht, dass die EZB bereits jetzt ihre Zinsen senkt. Leider hatte sie sich faktisch vorab auf diese Zinssenkung festgelegt, statt sich an den Daten zu orientieren, die in der Gesamtschau eine abwartende Haltung nahelegen. So steigen die Verbraucherpreise ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel seit Jahresanfang wieder stärker – und zwar mit einer auf's Jahr hochgerechneten Rate, die mit 3,5 Prozent deutlich über dem Inflationsziel der EZB liegt. Außerdem ist noch immer kein Abwärtstrend bei den weiter stark steigenden Tariflöhnen zu erkennen. Darüber hinaus erholen sich die konjunkturellen Frühindikatoren, sodass die Unternehmen bald wieder über mehr Preissetzungsmacht verfügen könnten."
JÖRG ASMUSSEN, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER VERSICHERER-VERBAND GDV:
"Der Zinsgipfel ist überschritten und mit der heutigen Zinssenkung hat die EZB den Abstieg begonnen. Er muss und wird länger dauern als der Weg bergauf, denn die Inflation geht nur langsam zurück. Preise für Dienstleistungen und vor allem die jüngsten Lohnentwicklungen bremsen den Inflationsrückgang spürbar aus. Vor weiteren Zinsschritten sind daher klare Daten nötig, die zeigen, dass der Preisdruck sich verlässlich und dauerhaft abschwächt. Bis dahin sollte die EZB die auch trotz der ersten Zinssenkung restriktive geldpolitische Orientierung beibehalten."
(Bericht von Klaus Lauer - Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)