Büchse der Pandora geöffnet - Corona-Exit nimmt Fahrt auf
- von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) - Berlin führte am Mittwoch eine Maskenpflicht auch in Geschäften ein; CSU-Generalsekretär Markus Blume mahnt vor einem "Kurs der Fahrlässigkeit" in der Corona-Krise:
Auf den ersten Blick erhält der vorsichtige Öffnungs-Kurs von Kanzlerin Angela Merkel vor der nächsten Bund-Länder-Schalte Unterstützung. Tatsächlich aber scheint sich der Exit ungeachtet der Bund-Länder-Absprachen unaufhaltsam zu beschleunigen. Viele Länder schreiten bei der Öffnung voran. Im Bundeskabinett forciert Familienministerin Franziska Giffey eine Kita-Öffnung. Und die Gerichte demontieren die Einschränkungen, die eine nur schrittweise Öffnung gewährleisten sollten. Dabei warnt das Robert-Koch-Institut, dass man erst kommende Woche wisse, wie sich die bisherigen Lockerungen auf die Zahl der Neuinfektionen auswirkten.
Aber offenbar ändert sich die Stimmung im Land. Umfragen weisen leicht rückläufige Zustimmungen zu den erheblichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens aus. Das liegt auch daran, dass sich laut RKI die Zahl der offiziell bekannten täglichen Neuinfizierten bei etwas über 1000 eingependelt hat, was den Virologen zufolge eine Endämmung der Epidemie möglich macht. Gesundheitsminister Jens Spahn gab mit der vorgeschlagenen Umwidmung vieler freier Intensivbetten in den Krankenhäusern ebenfalls ein Signal für eine leichte Normalisierung.
LOBBYVERBÄNDE, MINISTER UND LÄNDER DRÄNGELN
Doch die Sorge sitzt nach Angaben aus Regierungskreisen bei Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun tief, dass die Gefahr eines Rückfalls enorm ist. "In allen Pandemien hat es eine zweite Welle gegeben", heißt es in Koalitionskreisen. Merkel hatte deshalb weitere Öffnungsbeschlüsse vom 30. April auf den 6. Mai vertagt - weil man erst dann wisse, ob der Kurs etwa der Ladenöffnungen zu beherrschbaren Zahlen an Corona-Infizierten führe. Nur wirkt der Prozess immer weniger steuerbar.
"Denn hinter den Kulissen legen viele Lobbyverbände los, seit der Hebel Richtung Öffnungen umgestellt wurde", heißt es in Regierungskreisen. Gebe es Lockerungen in einem Sektor, werde dies für andere auch gefordert. Angesichts der Verzweiflung in vielen Branchen sei dies verständlich, wird eingeräumt. Doch der Druck wächst, weil nun auch Minister wie Giffey für ihre Klientel Öffnungs-Forderungen vorantreiben. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier kritisierte, dass die Bundesregierung längst nicht mehr mit einer Stimme spreche. Aber der Druck nimmt auch in den Ländern zu. Jedenfalls einigten sich die Familienminister von Bund und Ländern gemeinsam auf ein Konzept zur schrittweisen Kita-Öffnung. Andere Bereiche wie Sport oder Gastronomie drängeln immer stärker.
Dabei geraten die früheren Fronten durcheinander. Ausgerechnet Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der sich angesichts der hohen Zahl an Corona-Infizierten im Freistaat betont vorsichtig gegeben hat, bringt nun eine Öffnung der Restaurants um Pfingsten herum ins Spiel. Das setze andere unter Zugzwang, betonte Bouffier. Aber Söder steht wie sein schleswig-holsteinischer Kollege Daniel Günther selbst unter Druck, weil die Nachbarländer Österreich und Dänemark bei der Öffnung längst voranpreschten. "Es entsteht eine Sogwirkung zur Öffnung", heißt es in der Regierung.
Ohnehin war das angestrebte einheitliche Vorgehen der Länder nicht gegeben. Schleswig-Holstein lässt wieder größere Versammlungen unter Auflagen zu. Hessen und Nordrhein-Westfalen erlauben Gottesdienste - nachdem Sachsen dabei vorangegangen war. Hessen öffnet sogar wieder die Alten- und Pflegeheime für Besuche, wenn auch mit harten Auflagen. Rheinland-Pfalz hatte frühzeitig im Alleingang Malls und Zoos erlaubt, ihre Tore wieder zu öffnen - und damit die Nachbarländer verärgert.
GERICHTE BESCHLEUNIGEN LOCKERUNGEN
Hinzu kommen die Gerichte, die schrittweise verschiedene Auflagen einkassieren. Richter in Bayern und Hamburg kippten etwa das Öffnungsverbot für große Geschäfte. Nun darf jeder Laden wieder öffnen, egal wie groß er ist - wenn er seine Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter begrenzt. Kanzlerin und Ministerpräsidenten müssten am Donnerstag diskutieren, ob sie die Beschränkung nicht völlig kippen wollten, meint Bouffier. Dabei sollte die Regel eigentlich verhindern, dass zu viele Menschen die Innenstädte aufsuchen.
Das Verfassungsgericht im Saarland wiederum kippte am Mittwoch die rigiden Einschränkungen, nach denen die Saarländer ihre Wohnungen seit dem 21. März nur mit einem triftigen Grund verlassen durften. Urteile stehen auch zu den Schulöffnungen an, die bisher nur für Abschlussklassen vorgesehen sind. Meist wird juristisch mit dem Gleichheitsgrundsatz argumentiert - wenn Lockerungen für die eine Gruppe beschlossen werden, muss sie auch für andere gelten. Nur beschleunigt dies den Abbau von Einschränkungen jenseits der politischen Entscheidungen.
Am Ende, das räumt man auch in der Bundesregierung ein, müsse man neu nachdenken: Sorgten Gerichte für zu weitgehende Öffnungen in einigen Sektoren, müsse man leider in anderen Bereichen Lockerungen zurückstellen. Der Gesundheitsschutz gehe vor. Ob diese Position angesichts der sich geänderten Stimmungslage und des Drucks von Eltern oder Firmen aber durchzuhalten ist, gilt allerdings selbst in der Koalition als ungewiss.